Du bist in meiner Hand
sie sich im Spülbecken Füße und Hände gewärmt hatte, verließ Sita ihren Platz auf der Küchentheke und kehrte in die Dunkelheit des Schranks zurück, wo sie erst eine Stunde vor Sonnenaufgang einschlief und sich nicht mehr rührte, bis jemand mit dem Stiel des umgefallenen Mopps auf sie einstocherte. Als sie daraufhin blinzelnd die Augen öffnete, erblickte sie über sich die wütende Tante- ji . Sitas Kopf war wie in Watte gepackt, und ihre Haut fühlte sich fiebrig an.
»Was fällt dir ein?«, schrie Tante- ji . »Wir benutzen diese Tischtücher für unsere Gäste! Wie kannst du es wagen, darin zu schlafen!«
»Aber mir ist nachts immer so kalt«, flüsterte Sita.
Tante- ji starrte sie wütend an. »Du undankbares Ding! Obwohl du von uns Essen und ein Dach über dem Kopf bekommst, beschwerst du dich.« Sie begann zu schnuppern. »Was ist denn das für ein Gestank?« Als sie sich weiter zu Sita hinabbeugte, rümpfte sie die Nase. »Du riechst ja wie ein ungewaschenes Schwein! Komm mit!«
Sita folgte ihr in die Wärme der Wohnung. Ihr Körper fühlte sich seltsam kribbelig an, ganz anders als sonst. Ihre Gelenke schmerzten, und ihr Hals war rau wie Schleifpapier. Sie spürte, dass sie krank wurde. Tante- ji riss die Tür zum Badezimmer auf und deutete auf die Wanne.
»Zieh dich aus!«
Sita gehorchte, ohne nachzudenken. Tante- ji schnappte sich ihren Churidar und rollte ihn zu einem kleinen Häufchen zusammen.
»Wasch dich! Du hast zehn Minuten, mehr nicht. Mal sehen, ob ich diesen dreckigen Fetzen wieder sauber bekomme.«
Sita stieg in die Wanne und schrubbte ihre Haut, bis sie fast wund war. Als sie schließlich mit den Fingern durch ihr verfilztes Haar fuhr, brach sie in Tränen aus. Wie ein heißer Lavastrom flossen sie ihre Wangen hinunter. Sie hatte Bombay mit dem Vorsatz verlassen, so stark zu werden wie ihre Schwester, hatte dabei aber nicht mit so viel Ein samkeit und solch schlimmen Entbehrungen gerechnet. Als ihre zehn Minuten um waren, versuchte sie sich wieder zu fangen, aber die Tränen wollten einfach nicht versiegen.
Tante- ji kam ins Bad gestürmt und warf ein Handtuch und einen ausgewaschenen lila Sari auf den Boden.
»Trockne dich ab und zieh dich an! Du hast schließlich noch etwas zu tun!«
Aus Gründen, die Sita nicht verstand, gestattete Tante- ji ihr, sich ungestört auf den Tag vorzubereiten. Sita musste dabei ständig niesen und spürte, wie sich ihre Krankheit immer mehr aufbaute. Als sie nicht länger warten konnte, verließ sie das Badezimmer und ging hinüber ins Restaurant, wo sie der Junge, Shyam, bereits mit Schaufel und Besen in der Küche erwartete. Er sah sie an und lächelte scheu.
»Meine Mutter musste zum Markt«, erklärte er. »Ich soll dir das hier geben.«
Sita sah ihn überrascht an. Sie wusste nicht recht, ob sie nun Schaufel und Besen nehmen und damit das Restaurant fegen sollte. Das gehörte zu ihren morgendlichen Pflichten, aber bisher hatte Tante- ji sie dabei immer persönlich überwacht.
Shyam dagegen stellte die Putzsachen gleich wieder auf dem Boden ab. »Magst du Cricket?«, fragte er, während er eine Handvoll eselohriger Sportkarten aus der Tasche zog. Voller Begeisterung hielt er sie Sita hin. »Ich habe Ricky Ponting und Sandeep Patil, aber Sachin Tendulkar fehlt mir noch. Kennst du Sachin Tendulkar?«
Sie nickte.
»Hier.« Er hielt ihr die Karten hin. »Du darfst sie dir ansehen.«
Sie nahm ihm die Karten aus der Hand. Abgesehen von einer Hochglanzkarte mit dem Konterfei von Ricky Ponting waren sie eher schlicht gestaltet – nur ein Foto vom Gesicht des Spielers, umrahmt von einem weißen Rand.
»Sie sind sehr schön.« Sie brachte sogar ein Lächeln zustande, als sie ihm die Karten zurückgab.
Shyam strahlte vor Stolz. »Wenn ich Sachin Tendulkar bekomme, zeige ich ihn dir.«
Kurz darauf hörten sie die Restauranttür bimmeln. Shyam stopfte die Karten zurück in seine Tasche, und Sita griff schnell nach Schaufel und Besen. Als sie das Restaurant betrat, kam ihr dort Tante- ji mit einer Papiertüte vom Markt entgegen. Das warme Gefühl, das Sita angesichts von Shyams Freundlichkeit empfunden hatte, sollte nicht lange anhalten. Die Frau bedachte sie mit einem bösen Blick und wollte wissen, wieso der Boden noch nicht gefegt sei.
»Du nutzloses Geschöpf!«, ereiferte sie sich. »Ich lasse dich baden, und du dankst es mir mit Faulheit. An die Arbeit!«
Die Stunden harter Arbeit raubten ihr die letzte verbliebene Kraft. Sita
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