Du bist in meiner Hand
Zweifel. Wobei es ziemlich schwer sein dürfte, dem Mädchen das begreiflich zu machen.«
Am Teich blieb Anita stehen und bedeutete Thomas, sich auf einer steinernen Bank niederzulassen.
»Ahalya verbringt an diesem Teich nahezu ihre ganze Freizeit.«
»Warum?«
Anita deutete auf einen Tontopf, der unter der Wasseroberfläche kaum zu sehen war. »Sie hat in dem Topf Lotussamen gepflanzt. Der Lotus ist die am meisten geschätzte Pflanze Indiens. Ahalya möchte sie ihrer Schwester schenken.«
»Sie hofft immer noch, dass wir Sita finden?«
»Natürlich. Würden Sie das an ihrer Stelle nicht?«
Thomas überlegte einen Moment. »Das war jetzt wohl eine ziemlich zynische Frage von mir.«
»Zynismus ist der Fluch des Westens. Hier in Indien haben wir den Glauben noch nicht verloren.« Anita wandte sich mit einem herzlichen Lächeln um. »Da ist sie ja!«
Mit einem Arm voller Bücher steuerte Ahalya auf den Teich zu. Sie sah zunächst Anita an, doch dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf Thomas. Auch nachdem sie Platz genommen hatte, fixierte sie ihn weiterhin mit einem derart eindringlichen Blick, dass Thomas sich langsam unwohl fühlte. Verlegen sah er auf den Teich und hoffte, Anita möge eingreifen.
Doch es war Ahalya, die als Erste das Schweigen brach: »Haben Sie herausgefunden, wohin sie Sita gebracht haben?«
»Da gibt es immer noch nichts Neues«, antwortete Anita. »Die Polizei tut, was sie kann.«
Als Ahalya sich daraufhin an Thomas wandte, sah er die Traurigkeit in ihren Augen. »Sie waren bei der Razzia dabei«, bemerkte sie leise. »Wie heißen Sie?«
»Thomas.«
»Sind Sie Engländer?«
»Amerikaner.«
Sie überlegte einen Moment. »Warum sind Sie in Indien?«
»Ich bin Anwalt. Außerdem stammt meine Frau aus Bom bay.«
»Sie arbeiten hier als Anwalt?« Ahalya wirkte verwirrt.
»Gewissermaßen. Ich mache ein Praktikum bei CASE .«
»Und Ihre Frau ist Inderin?«
Er nickte.
»Haben Sie Kinder?«
Die Frage kam für Thomas völlig überraschend und löste bei ihm eine Flut von Gefühlen aus.
»Nein«, antwortete er nach einer Pause.
»Warum nicht? Mögen Sie keine Kinder?«
Thomas war auf die direkte Art des Mädchens nicht vorbereitet. Ihm fiel keine passende Antwort ein.
»Das ist nicht der Grund«, sagte er schließlich. »Wir hatten ein Kind, eine kleine Tochter, aber sie ist gestorben.«
Ahalya zupfte an ihren Schulbüchern herum. »Das tut mir leid«, sagte sie leise. Da fiel ihr plötzlich etwas ein. »Kennen Sie jemanden beim amerikanischen FBI?«
»Nein«, antwortete er lächelnd, »aber ich habe einen Freund im Justizministerium. Warum?«
»Vielleicht könnte der mithelfen, meine Schwester zu finden.«
Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Unser Justizministerium hat in Indien keinerlei Befugnis.«
»Aber Amerika und Indien sind doch befreundet«, erwiderte sie. »Das hat mein Vater immer gesagt.«
»Das stimmt. Trotzdem sucht die amerikanische Regierung nicht nach Mädchen, die in Indien verschwinden, es sei denn, sie landen in den Vereinigten Staaten.«
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Amerika gehörte zu den Mitgliedstaaten von Interpol. Bei seinen Recherchen über Menschenhandel war er auf einen Artikel gestoßen, in dem erwähnt wurde, dass Interpol über eine Datenbank mit Fotos von Kindern verfügte, die weltweit vermisst wurden: Interpol’s Child Abuse Image Database , kurz ICAID .
»Hast du ein Foto von Sita?«, fragte er.
Ahalyas Augen leuchteten auf. »Warten Sie einen Moment!« Mit diesen Worten ließ sie ihre Bücher ins Gras fallen und eilte in Richtung Erholungsheim davon.
»Ich wette, Sie waren nicht darauf vorbereitet, verhört zu werden«, meinte Anita grinsend.
»Nein, aber ihre Fragen waren durchaus berechtigt. Ich wirke an diesem Ort wie ein Fremdkörper.«
Anita blieb keine Zeit für eine Antwort. Ahalya war bereits zurück, drückte Thomas ein leicht lädiertes, zehn mal fünfzehn Zentimeter großes Foto in die Hand und trat dann einen Schritt zurück, um seine Reaktion zu beobachten.
Thomas traute seinen Augen kaum. Es handelte sich um ein Familienfoto. Ahalya war im Vordergrund deutlich zu erkennen.
»Ist das deine Schwester?« Er deutete auf das jüngere Mädchen neben Ahalya.
»Ja, das ist Sita.«
»Woher hast du denn plötzlich dieses Foto?«, fragte Anita erstaunt.
»Ich habe es aus unserem Haus gerettet, nachdem die Wellen kamen«, antwortete Ahalya.
»Du hast es die ganze Zeit mit dir
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