Du bist in meiner Hand
ist sie?«, fragte Shyam.
Sita stellte sich Ahalya in Suchirs Bordell vor. »In Bombay«, sagte sie nur.
Shyam blinzelte. »Ich bin in Bombay geboren«, erklärte er freudig. Dann wurde sein Blick traurig. »Ich mag Paris nicht. Mir fehlt Indien.«
Sie unterhielten sich eine Viertelstunde, bis sie schließlich die Türklingel und Tante- jis Schritte hörten. Rasch sprang Sita auf und versteckte die Blume in ihrem Sari, während Shyam in Richtung Wohnung verschwand. Sita ging zu Tante- ji ins Restaurant und ertrug ihr Geschimpfe mit neuer Gelassenheit.
Obwohl Shyam noch ein Kind war, empfand sie seine Freundschaft als einzigen Lichtblick in ihrem Leben.
15
Wie ein Mensch im Leben handelt, so wird er.
BRIHADARANYAKA-UPANISHAD
Mumbai – Indien
CASE veranlasste, dass Samenkörner des blauen Lotus an die Barmherzigen Schwestern geliefert wurden. Als sie eintrafen, gab Schwester Ruth Ahalya einen Tontopf, den sie zur Aussaat verwenden konnte. Bei diesem Lotus handelte es sich um eine sehr empfindliche Pflanze. Niemand konnte garantieren, dass sie auch tatsächlich gedeihen würde, aber Ahalya war fest entschlossen, es zu versuchen. Sie wollte etwas haben, das sie Sita schenken konnte, wenn sie einander wiederfanden – etwas, das den Geist ihrer Familie lebendig halten würde. Sie pflanzte die Lotussamen vorsichtig in mineralreiche Erde, füllte den Topf anschließend mit Wasser und stellte ihn in den Teich, der nicht weit vom Eingangstor entfernt angelegt war.
Das Leben im Heim war straff organisiert, sodass jede Stunde des Tages mit irgendeiner Beschäftigung ausgefüllt war. Ahalya lernte diesen strengen Terminplan schnell zu schätzen. Wie sie feststellte, war Heilung nur möglich, wenn man in Bewegung blieb und sinnvolle Ziele verfolgte, die einem das Gefühl gaben, dass das Leben trotz allem noch lebenswert war.
Sie besuchte die zwölfte Klasse der Tagesschule, doch der Unterricht entsprach bei Weitem nicht den hohen Maßstäben ihrer früheren Klosterschule St. Mary’s in Chennai. Schwester Ruth wurde bald klar, dass Ahalya eine anspruchsvollere geistige Beschäftigung brauchte. Nachdem sie Anita darauf angesprochen hatte, organisierten die Leute von CASE eine Privatlehrerin, die mit Ahalya einen seminarähnlichen, zweimal wöchentlich stattfindenden Unterricht auf Universitätsniveau beginnen sollte. Ahalya hatte schon immer gern gelernt, und der vertraute Rhythmus aus Lesen, Diskutieren und Wiedergeben verlieh ihrem Geist frischen Schwung und ihrer Zukunft einen neuen Sinn.
Zusätzlich hatte sie jede Woche einen Termin mit Anita. Dabei besprachen die beiden alles Mögliche, aber als Erstes fragte Ahalya immer nach Sita. Anita versicherte ihr jedes Mal, dass CASE bei der Suche nach Sita eng mit der Polizei zusammenarbeite. Anita erzählte ihr auch, dass Inspektor Khan Kontakt mit dem CBI aufgenommen hatte, dem Central Bureau of Investigation , das auch über eine Zweigstelle in Bombay verfügte und nun ebenfalls wegen Sitas Verschwinden ermittelte. Für ein, zwei Tage fühlte sich Ahalya etwas hoffnungsvoller, doch als sie nichts Konkretes hörte, trübte sich ihre Stimmung schon bald wieder.
Was war nur mit ihrer Schwester geschehen?
Eines Morgens, als erneut einer von Anitas wöchentlichen Besuchen bei Ahalya anstand, fragte Thomas die Leiterin der Abteilung für Wiedereingliederung, Rachel Pandolkar, ob er Anita begleiten dürfe. Rachel erteilte ihre Zustimmung unter der Bedingung, dass er Ahalya keine Fragen zu Suchirs Bordell stellte. Diese Bedingung akzeptierte Thomas ohne Zögern.
Drei Wochen nach der Razzia teilte er sich mit Anita eine Rikscha nach Andheri. Von Khar aus dauerte die Fahrt knapp eine Stunde. Kurz vor vier Uhr nachmittags kamen sie an. Das Tor zum Ashram war nicht abgeschlossen. Anita führte Thomas zu dem von rosa Akazien umgebenen Fischteich.
»Nach allem, was die Mädchen durchgemacht haben, muss ihnen dieser Ort wie das Paradies vorkommen«, meinte Thomas, während er sich anerkennend umblickte.
»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen«, entgegnete Anita. »Die meisten von ihnen wollen einfach nur nach Hause. Erst letzte Woche hat eine versucht auszubüchsen.«
»Tatsächlich?«
»Die Schwestern haben sie erwischt und wieder hergebracht. Sie stammt aus Haryana, einer Region im Norden, und wurde von ihrem eigenen Onkel verkauft, vermutlich mit dem Einverständnis der Eltern. Wir bezweifeln also ganz stark, dass sie zu Hause sicher ist, und das Jugendamt teilt diese
Weitere Kostenlose Bücher