Du bist nie allein
ließ sich Strähnchen färben und hatte deshalb eine Plastikhaube auf dem Kopf. Aus den Löchern der Haube hingen einzelne, mit violetter Farbe eingepinselte Haarsträhnen. Julie prüfte die Farbe, stellte den Haartrockner ganz niedrig ein, wodurch sie ein paar Minuten gewann, und eilte wieder nach vorn in den Salon.
»Alles klar«, sagte sie auf dem Weg zur Tür, »ich bin so weit.«
Richard folgte ihr hinaus. Die Tür ging bimmelnd hinter ihnen zu.
»Also, worüber wolltest du mit mir reden?«
Richard zuckte die Achseln. »Über nichts Wichtiges. Ich wollte dich bloß eine Minute für mich haben.«
»Du machst Witze.«
»Ganz und gar nicht.«
»Aber warum?«
»Ach«, sagte er in gespielter Unschuld, »das weiß ich selbst nicht so recht.«
»Ich hab deine Karte gefunden«, sagte Julie. »Das war doch nicht nötig.«
»Weiß ich. Aber ich hatte Lust dazu.«
»Hast du deswegen heute früh im Salon angerufen? Um zu erfahren, ob ich sie bekommen habe?«
»Nein. Ich wollte nur deine Stimme hören.«
Julie sah zu ihm hoch und dachte: Mit solchen Schmeicheleien fängt der Tag wirklich gut an. Gleich darauf begann Richard, an seinem Uhrenarmband zu nesteln.
»Aber ich bin noch aus einem anderen Grund hier.«
»Ach, verstehe. Erst bekomme ich Honig um den Bart geschmiert, dann kommt die Wahrheit ans Licht, wie?«
Er lachte. »So ungefähr. Ehrlich gesagt möchte ich wissen, ob du Lust hast, am Samstag noch mal mit mir auszugehen.«
Am Samstag, fiel Julie siedend heiß ein, sollte sie zum Abendessen zu Emma und Henry kommen. Und Mike auch.
»Das würde ich sehr gern, aber ich kann nicht. Ich bin bei Freunden eingeladen. Können wir uns nicht am Freitag sehen? Oder vielleicht irgendwann in der Woche?«
Richard schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, das ginge, aber ich fahre heute Abend zu einem Meeting nach Cleveland und bin erst Samstag wieder zurück. Und ich habe eben erst erfahren, dass ich am Wochenende darauf möglicherweise auch weg muss. Steht zwar noch nicht fest, aber es sieht ganz danach aus.«
Er schwieg. »Bist du sicher, dass es nicht geht?«
»Leider ja«, sagte Julie. Widerstrebend fuhr sie fort: »Es sind gute Freunde. Da kann ich nicht einfach in letzter Minute absagen.«
Kurz huschte ein rätselhafter Ausdruck über Richards Gesicht, doch er war im Nu wieder verschwunden. »Okay«, sagte er.
»Tut mir Leid«, murmelte Julie. Hoffentlich glaubte er ihr, dass sie es ernst meinte.
»Mach dir keine Gedanken.«
Richards Blick schien in die Ferne zu schweifen, bevor er sie wieder ansah. »Aber ich darf dich doch in ein paar Wochen noch mal anrufen? Wenn ich wieder da bin, meine ich? Vielleicht können wir ja dann was ausmachen.«
In ein paar Wochen?
»Warte mal«, sagte Julie. »Du könntest doch mit zu dem Abendessen kommen! Meine Freunde hätten bestimmt nichts dagegen.«
Richard schüttelte den Kopf. »Nein. Es sind deine Freunde, und mit neuen Bekanntschaften tu ich mich schwer. Das ist immer schon so gewesen – ich bin etwas schüchtern und ich möchte nicht, dass du deine Pläne ändern musst.«
Er lächelte und nickte dann Richtung Salon. »Hör mal, ich habe versprochen, dich nicht lange aufzuhalten, und ich bin einer, der sein Wort hält. Außerdem muss ich auch zurück zur Arbeit.«
Er lächelte wieder. »Übrigens, toll siehst du aus.«
Als er sich zum Gehen wandte, konnte Julie nicht an sich halten und rief: »Warte!«
Richard blieb stehen. »Ja?«
»Hör zu, wenn du nächste Woche nicht hier bist… vielleicht kann ich meine Pläne ja doch ändern. Ich werde mit Emma reden. Sie nimmt’s mir bestimmt nicht übel.«
»Ich möchte nicht, dass du deine Verabredung einfach sausen lässt.«
»So schlimm ist es auch wieder nicht… Wir sehen uns oft.«
»Ganz sicher?«, fragte er.
»Ja, ganz sicher.«
Richard sah Julie in die Augen, mit einem Blick, als sähe er sie zum ersten Mal. »Das ist toll«, sagte er, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, neigte er sich vor und küsste sie.
Nicht sehr fest, nicht zu lang, aber immerhin ein Kuss.
»Danke«, murmelte er.
Bevor ihr eine Antwort einfiel, drehte Richard sich um und ging davon. Julie konnte ihm nur nachsehen.
»Hat er sie gerade geküsst?«
Mike fiel der Unterkiefer runter.
Er hatte gerade am offenen Erkerfenster der Werkstatt gestanden, als er Richard die Straße heraufkommen sah. Er hatte beobachtet, wie Richard allein in den Salon ging, dann, wie Julie und Richard zusammen herauskamen, und gerade als
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