Du bist nie allein
langweilig!«
»Eigentlich ist es nur eine bessere Umschreibung dafür, dass ich den ganzen Tag mit Zahlen zu tun habe. Ich bin das, was die meisten Leute einen Zahlenheini nennen würden.«
Julie musterte ihn zweifelnd. »Ging es bei dem Meeting auch darum?«
»Welches Meeting?«
»Das in Cleveland.«
»Oh… nein«, sagte Richard und schüttelte den Kopf. »Die Firma will sich demnächst um ein weiteres Projekt in Florida bewerben, und da ist viel Vorarbeit zu erledigen – Kostenvoranschläge, Verkehrshochrechnungen, zu erwartende Belastungen und so. Dafür haben die Firmen natürlich eigene Leute, aber Ingenieure wie ich werden eingeschaltet, um sicherzugehen, dass ihre Entwürfe den Vorgaben der staatlichen Ausschreibungen entsprechen. Du würdest staunen, wie viel Arbeit anfällt, bevor ein Projekt überhaupt beginnen kann! Ganze Wälder kostet der Papierkram eines einzelnen Projekts, und im Moment bin ich ehrlich gesagt etwas überlastet.«
Julie betrachtete ihn im Schummerlicht des Restaurants.
Sein markantes Gesicht, ebenso gefurcht wie jungenhaft, erinnerte sie an die Männer aus der Zigarettenwerbung. Sie versuchte vergeblich, sich vorzustellen, wie Richard als Kind ausgesehen haben mochte.
»Was machst du in deiner Freizeit? Hast du Hobbys?«
»Nicht sehr viel. Neben der Arbeit und etwas Fitnesstraining bleibt mir kaum Zeit für anderes. Früher hab ich ein bisschen fotografiert. Am College habe ich ein paar Kurse absolviert und kurze Zeit sogar überlegt, das professionell zu machen. Aber leben kann man kaum davon, wenn man nicht gerade ein Atelier aufmacht, und ich hatte keine Lust, die Wochenenden als Fotograf bei Hochzeiten oder Bar-Mizwas zu verbringen, oder Kinder abzulichten, die von ihren Eltern angeschleppt werden.«
»Also bist du stattdessen Ingenieur geworden.«
Er nickte. Eine kurze Gesprächspause trat ein, und Julie griff nach ihrem Weinglas.
»Und du stammst ursprünglich aus Cleveland?«, fragte sie dann.
»Nein. So lange wohne ich noch nicht in Cleveland. Erst ungefähr ein Jahr. Aufgewachsen bin ich in Denver, da hab ich den größten Teil meines Lebens verbracht.«
»Was haben deine Eltern gemacht?«
»Dad arbeitete in einer Chemiefabrik. Und Mom war einfach Hausfrau und Mutter. Anfangs jedenfalls. Du weißt schon: kochen, putzen, aufräumen… Aber als mein Dad starb, musste sie eine Stelle als Haushaltshilfe annehmen. Viel hat sie nicht verdient, aber irgendwie hat sie uns durchgebracht. Offen gesagt, ich hab keine Ahnung, wie sie das geschafft hat.«
»Klingt bemerkenswert.«
»Das war sie auch.«
»War?«
Richard senkte den Blick und schwenkte den Wein in seinem Glas herum. »Vor ein paar Jahren hatte sie einen Schlaganfall, und… nun, es sieht nicht gut aus. Sie nimmt kaum wahr, was um sie herum passiert, und mich erkennt sie überhaupt nicht. Sie erinnert sich kaum noch an etwas. Ich musste sie nach Salt Lake City in ein Pflegeheim bringen, das auf Fälle wie ihren spezialisiert ist.«
Julie zuckte leicht zusammen. Richard bemerkte ihren Gesichtsausdruck und schüttelte den Kopf.
»Schon gut. Konntest du ja nicht wissen. Aber um ehrlich zu sein, ich rede sonst nicht darüber. Es führt meist zu unbehaglichem Schweigen, zumal wenn Leute hören, dass mein Vater auch tot ist. Bringt sie ins Grübeln, wie es wohl ist, keine Familie zu haben. Aber das muss ich dir ja kaum erklären, nehme ich an.«
Nein, dachte Julie, das musst du nicht. Das kenne ich gut.
»Bist du deshalb aus Denver weggegangen? Wegen deiner Mutter?«
»Das war nicht der einzige Grund.«
Richard sah hoch. »Dürfte wohl an der Zeit sein, dir zu sagen, dass ich schon mal verheiratet war. Mit einer Frau namens Jessica. Auch wegen ihr bin ich weg aus Denver.«
Julie sagte nichts, obwohl sie ein wenig verblüfft war, dass er das bislang noch nicht erwähnt hatte. Offenbar zögerte er, weiterzureden, aber schließlich fuhr er mit tonloser Stimme fort:
»Ich weiß nicht, was schief gelaufen ist. Ich könnte den ganzen Abend versuchen, es dir zu erklären, aber ehrlich gesagt begreife ich es immer noch nicht. Letzten Endes hat es einfach nicht funktioniert.«
»Wie lange wart ihr verheiratet?«
»Vier Jahre.«
Er sah ihr über den Tisch hinweg in die Augen. »Willst du das wirklich hören?«
»Wenn du es mir nicht erzählen willst…«
»Danke«, sagte er und stieß erleichtert die Luft aus. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich über deine Worte bin.«
Sie lächelte. »Und dann
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