Du bist nie allein
Einzelheiten Revue passieren lassen, sich an Julies Mienenspiel erinnert und ihre Aussagen auf verborgene Untertöne überprüft, die womöglich nahe legten, dass er etwas falsch gemacht hatte. Er hatte wach gelegen und keinen Schlaf gefunden, bis er auf die Idee kam, eine Karte zu schreiben und sie ihr in den Briefkasten zu stecken, damit sie sie am nächsten Morgen fand.
Aber seine Sorgen waren unbegründet gewesen. Sie hatten sich beide gut amüsiert – nein, prächtig sogar. Lachhaft, der Gedanke, dass er sich da geirrt haben könnte.
Sein Mobiltelefon läutete, und er prüfte anhand der Nummer im Display, wer es war.
Blansen von der Baustelle. Der Vorarbeiter. Bestimmt mit neuen Hiobsbotschaften über den Zeitplan, der nicht einzuhalten war, über zusätzlich anfallende Kosten. Ober Verzögerungen. Blansen hatte immer üble Neuigkeiten. Deprimierend, der Typ. Behauptete, ihm läge was an seinen Leuten, womit aber in Wahrheit gemeint war, er wollte nicht, dass sie sich überarbeiteten.
Statt dranzugehen, rief sich Richard noch einmal Julies Bild vor Augen. Es war Schicksal gewesen, dachte er, sie zu treffen. An jenem Morgen hätte er an tausend anderen Orten sein können. Ein neuer Haarschnitt hätte noch ein paar Wochen warten können, aber wie von einer unbekannten Macht geleitet hatte er die Tür zum Salon aufgestoßen.
Schicksal.
Das Mobiltelefon schrillte wieder los.
Ja, die Verabredung war gut gelaufen, aber da war noch etwas. Heute, kurz bevor sie sich trennten…
Vielleicht hätte er Julie nicht küssen sollen. Dabei hatte er das gar nicht vorgehabt, aber als sie ihm zuliebe ihre Pläne über den Haufen warf, war er so freudig erregt gewesen, dass es einfach geschah. Für sie beide überraschend. War es zu früh gewesen?
Ja, entschied er und bereute es. Es bestand kein Grund zur Hast. Beim nächsten Wiedersehen wollte er es lieber langsamer angehen lassen. Ihr ein wenig Luft lassen, damit sie sich in aller Ruhe ihre Meinung über ihn bilden konnte, ohne Druck. Ganz natürlich.
Das Mobiltelefon läutete ein drittes Mal, aber Richard ignorierte es weiter. Vor seinem geistigen Auge ließ er die Szene noch einmal Revue passieren.
Sehr süß.
Kapitel 5
A m Samstagabend, beim Essen, starrte Richard Julie über den Tisch hinweg an. Ein feines Lächeln spielte um seine Lippen.
»Worüber lächelst du?«, fragte Julie.
Richard machte ein verlegenes Gesicht. »Entschuldige. Hab wohl gerade ein bisschen geträumt.«
»Bin ich so langweilig?«
»Überhaupt nicht. Ich freue mich nur, dass du es einrichten konntest, heute Abend mit mir auszugehen.«
Er tupfte sich mit der Serviette den Mundwinkel ab und sah Julie tief in die Augen. »Habe ich dir schon gesagt, wie zauberhaft du heute Abend aussiehst?«
»Ungefähr ein Dutzend Mal.«
»Soll ich aufhören?«
»Nein. Es hört sich vielleicht seltsam an, aber an ein Leben wie auf einem Sockel könnte ich mich gewöhnen.«
Richard lachte. »Ich werd mir Mühe geben, dass du da bleibst.«
Sie waren im Pagini’s, einem gemütlichen Restaurant in Morehead City, in dem es nach frischen Gewürzen und Buttersoße duftete, die Art Lokal, wo die Kellner Schwarz und Weiß trugen und das Menü mitunter direkt am Tisch zubereitet wurde. Neben dem Tisch stand in einem Eiskübel eine Flasche Chardonnay. Der Kellner hatte zwei Gläser eingeschenkt, sie leuchteten golden im gedämpften Licht. Richard war in einem Leinenjackett an Julies Tür erschienen, einen Strauß Rosen im Arm und dezent nach Eau de Cologne duftend.
»Erzähl mir von deiner Woche«, sagte er jetzt. »Was ist Aufregendes passiert, während ich fort war?«
»Meinst du, bei der Arbeit?«
»Bei der Arbeit, in deinem Leben, einerlei. Ich möchte alles wissen.«
»Die Frage sollte ich wohl eher dir stellen.«
»Wieso?«
»Weil mein Leben nicht besonders aufregend ist. Ich bin Friseurin in einer kleinen Stadt in den Südstaaten, schon vergessen?«
Julie schlug einen humorvollen Ton an, als wolle sie jedes Mitgefühl abwehren. »Außerdem merke ich gerade, dass ich noch nicht viel von dir weiß.«
»Dass ich Ingenieur bin, habe ich doch schon erwähnt, oder?«
»Ja, aber Näheres hast du nicht erzählt.«
»Weil mein Job ziemlich langweilig ist.«
Julie sah skeptisch drein, und Richard dachte kurz nach. »Okay… was mache ich…«
Er hielt inne. »Nun, denk dir einfach, dass ich derjenige bin, der hinter den Kulissen dafür sorgt, dass die Brücke nicht einstürzt.«
»Das ist doch nicht
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