Du bist nie allein
eine Bühne hinter einer unebenen Tanzfläche, die sich nur selten leerte, wenn Bands spielten. Im Raum verteilt standen ein paar Dutzend Tische, in die schon zahllose Gäste ihre Initialen eingekerbt hatten. Ein Sammelsurium von Stühlen vervollständigte das Bild.
Die Band auf der Bühne, Ocracoke Inlet, gehörte mehr oder weniger zum Inventar des Clipper. Der Inhaber, ein einbeiniger Mann namens Leaning Joe, mochte die Band. Ihre Musik brachte die Leute in Stimmung, sodass sie länger blieben und unablässig Getränke bestellten. Die Jungs spielten nichts Originelles, nichts Gewagtes, nichts, was nicht in jeder Jukebox zu finden war, und genau aus dem Grund, dachte Mike, waren sie bei allen so beliebt.
Richtig
beliebt. Wenn sie auftraten, kamen die Leute in Scharen, anders als bei den Bands, in denen er mitspielte. Nicht ein einziges Mal jedoch hatten sie Mike gebeten, einzuspringen, dabei duzte er sich mit den meisten Mitgliedern der Band. Der Gedanke war deprimierend.
Aber schließlich war schon der ganze Abend deprimierend gewesen. Teufel, die ganze Woche war deprimierend gewesen! Seit Montag, als Julie ihre Schlüssel abgeholt und beiläufig
(beiläufig!)
erwähnt hatte, sie würde am Samstag mit Richard ausgehen, statt den Abend mit ihm zu verbringen, war Mike zutiefst niedergeschlagen. Seine schlechte Laune war sogar einigen Kunden aufgefallen. Schlimmer noch, Mike brachte die ganze Woche nicht den Mut auf, mit Julie zu reden, aus Angst, sie könnte ihn fragen, was mit ihm los sei. Ihr die Wahrheit zu sagen, brachte er nicht über sich, aber jeden Tag, wenn er sie an der Werkstatt vorbeigehen sah, wurde ihm von Neuem bewusst, dass er sich in einer ausweglosen Situation befand.
Sicher, Henry und Emma waren nett, und er war gern mit ihnen zusammen. Doch an Abenden wie diesem fühlte sich Mike wie das fünfte Rad am Wagen. Die beiden würden zusammen nach Hause gehen. Mike dagegen hatte niemanden, mal abgesehen von der einen oder anderen Maus, die durch seine Küche huschte. Die beiden konnten zusammen tanzen – Mike hockte die meiste Zeit über allein am Tisch, in die Lektüre von Bierflaschenetiketten vertieft, die er von den Flaschen knibbelte. Und wenn Emma ihn zum Tanzen aufforderte, wie an diesem Abend mehrfach geschehen, kam es ihm jedes Mal so vor, als böte ihm seine Mutter an, mit ihm zum Abschlussball zu gehen, weil sich sonst niemand opferte.
So war der Abend nicht geplant gewesen. Julie hätte mit dabei sein sollen. Julie hätte mit ihm tanzen, ihn bei einem Drink anlächeln, mit ihm lachen und flirten sollen. Und ohne Richard wäre es auch so gekommen.
Richard.
Er hasste den Kerl.
Er kannte ihn nicht. Wollte ihn nicht kennen. Schon bei dem Namen zog Mike ein finsteres Gesicht, und er sah schon den ganzen Abend finster drein.
Henry betrachtete seinen Bruder aufmerksam, trank sein Coors aus und stellte die Flasche beiseite.
»Ich finde, du solltest nicht so viel von dem billigen Bier trinken«, bemerkte Henry. »Davon musst du nur aufstoßen.«
Mike schaute hoch. Henry angelte grinsend nach Emmas Bierflasche. Sie war zur Toilette gegangen, und da es bei dem Riesenandrang immer lange Schlangen gab, wusste Henry, dass sie ein Weilchen fortbleiben würde. Er hatte schon ein neues Bier für sie bestellt.
»Ich trinke dasselbe wie du.«
»Stimmt«, sagte Henry, »aber dir ist sicher klar, dass manche es besser vertragen als andere.«
»Ja, ja… fasel du nur.«
»Mensch, sind wir heute gut drauf«, stichelte Henry.
»Du ärgerst mich schon den ganzen Abend.«
»So wie du dich in letzter Zeit aufführst, hast du es nicht anders verdient. Es gab ein tolles Essen, ich hab dich den ganzen Abend mit meinem sprühenden Witz unterhalten, und Emma hat dafür gesorgt, dass du nicht ewig allein am Tisch hockst wie ein Verlierer, den sein Mädel gerade versetzt hat.«
»Das ist nicht komisch.«
»Soll es auch gar nicht sein. Ich sage bloß die Wahrheit. Stell dir vor, ich bin dein brennender Dornbusch. Falls du zweifelst, falls du Antworten suchst, komm zu mir. Du solltest das Ganze nicht so schwer nehmen. Du lässt dir den ganzen Abend davon verderben.«
»Ich geb mir wirklich Mühe, okay?«
»Oh«, sagte Henry und zog eine Braue hoch, »verstehe. Entschuldige. Dann bilde ich mir die ganzen tiefen Seufzer wohl nur ein.«
Mike zog den Rest des Etiketts von seiner Flasche ab und knüllte es zusammen. »Ja, ja. Du bist wirklich ein Komiker, Henry. Du solltest mit deiner Nummer nach Las Vegas
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