Du bist nie allein
Fehler nicht nachtragen. Jemand, bei dem Zorn so rasch in Anteilnahme umschlug, war ein Schatz, und er hatte Glück, diesen Schatz gefunden zu haben.
Inzwischen wusste er einiges über Julie Barenson. Ihre Mutter war Trinkerin, mit einer Schwäche für Wodka, und hauste in einem schäbigen Wohnwagen am Stadtrand von Daytona. Ihr Vater lebte in Minnesota mit einer anderen Frau zusammen, nach einem Arbeitsunfall auf dem Bau bezog er eine bescheidene Frührente. Nach zwei Jahren Ehe mit seiner ersten Frau hatte er die Familie verlassen – Julie war damals drei Jahre alt. Sechs verschiedene Männer hatten im Laufe der Jahre mit Julie und ihrer Mutter zusammengelebt, der kürzeste Zeitraum betrug dabei sechs Monate, der längste zwei Jahre. Ein halbes Dutzend Mal waren sie umgezogen, immer von einer Bruchbude in die nächste.
Fast jedes Jahr ging Julie auf eine neue Schule, bis sie auf die Highschool kam. Mit vierzehn der erste Freund, er spielte Football und Basketball, es gab ein Bild von ihnen beiden in einem Jahrbuch. Nebenrollen in zwei Schulaufführungen. Doch dann brach sie die Schule vor dem Abschluss ab, tauchte für ein paar Monate unter und kam schließlich hierher.
Wie Jim es geschafft hatte, sie in ein solches Nest zu locken, war Richard schleierhaft.
Glückliche Ehe, langweiliger Ehemann. Nett, aber langweilig.
Nach der Begegnung im Clipper hatte Richard von einem Einheimischen auch mehr über Mike erfahren. Erstaunlich, wie leicht ein paar spendierte Drinks die Zunge lösten…
Mike war in Julie verliebt, aber das wusste Richard ja schon. Wie seine letzte Beziehung zu Ende ging, war ihm allerdings neu gewesen, und Sarahs Untreue hatte sein Interesse geweckt. Da taten sich Perspektiven auf.
Außerdem erfuhr er, dass Mike bei Julies Hochzeit Trauzeuge gewesen war. Der Kontakt zu Mike verhieß Trost, er war ein Bindeglied zu ihrer Vergangenheit, zu Jim. Richard verstand Julies Wunsch, sich daran festzuklammern. Aber dieser Wunsch war aus Angst geboren – Angst, so zu enden wie ihre Mutter, Angst, alles zu verlieren, wofür sie so hart gearbeitet hatte, Angst vor dem Unbekannten. Dass Singer im selben Zimmer schlief wie sie, wunderte ihn nicht, und er hatte den Verdacht, dass sie abends ihre Schlafzimmertür abschloss.
Vermutlich hatte sie sich das schon als Kind angewöhnt, wegen der Männer, die ihre Mutter angeschleppt hatte. Aber es gab jetzt keinen Grund mehr, so zu leben. Sie konnte loslassen, genau wie er.
Letzten Endes hatten sie vermutlich ganz ähnliche Kindheitserfahrungen. Der Alkohol. Die Schläge. Die vor Kakerlaken wimmelnde Küche. Der muffige Geruch schimmliger Wände. Das trübe Brunnenwasser aus dem Wasserhahn, bei dem ihm stets speiübel wurde. Sein einziger Trost waren die Fotobände von Ansei Adams gewesen, Fotografien, die von anderen Orten zu erzählen schienen, von besseren Orten. Die Bücher hatte er in der Schulbibliothek entdeckt, und er hatte sie stundenlang betrachtet und sich in den surreal anmutenden, wunderschönen Landschaften verloren. Seiner Mutter war dieses Interesse aufgefallen, und so trostlos Weihnachten in Bezug auf Geschenke sonst auch immer ausfiel, als Richard zehn war, hatte sie seinen Vater irgendwie überreden können, Geld für einen kleinen Fotoapparat und zwei Filmrollen auszugeben. Es war das einzige Mal in Richards Leben, dass er vor Glück geweint hatte.
Stundenlang hatte er damit zugebracht, Gegenstände im Haus oder Vögel im Garten zu fotografieren. Er machte Aufnahmen bei Tagesanbruch und in der Abenddämmerung, weil ihm das Licht zu diesen Tageszeiten zusagte. Er lernte, sich lautlos zu bewegen, wodurch ihm außergewöhnliche Nahaufnahmen gelangen. Wenn er einen Film verknipst hatte, lief er ins Haus und bettelte seinen Vater an, ihn entwickeln zu lassen. Waren die Fotos fertig, betrachtete Richard sie in seinem Zimmer sorgfältig, um herauszufinden, was ihm gelungen oder misslungen war.
Anfangs schien sein Vater über seinen Eifer amüsiert zu sein und begutachtete sogar die ersten Filme. Doch dann begannen die Kommentare. »Oh, sieh mal an, wieder ein Vogel«, sagte er höhnisch, und: »Mensch, da ist ja noch einer!«
Schließlich ärgerte es ihn immer mehr, wie viel Geld das Hobby seines Sohnes kostete. Aber statt Richard nahe zu legen, sich mit Jobs in der Nachbarschaft das Geld fürs Entwickeln selbst zu verdienen, beschloss sein Vater, ihm eine Lehre zu erteilen.
An jenem Abend war er wieder einmal betrunken, und sowohl Richard als
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