Du bist nie allein
gesehen«, fuhr er fort. »Erinnere mich daran, nie wieder deine Tür anzurühren, wenn dein Hund in der Nähe ist.«
Er sagte es so, als sei der Vorfall komisch gewesen, aber Julie erwiderte nichts. Singer hatte instinktiv reagiert, um sie zu beschützen, und dafür konnte sie ihn wohl kaum bestrafen.
Richard rappelte sich hoch und öffnete und schloss dabei die Hand. Julie konnte die Abdrücke von Singers Zähnen sehen, aber die Haut war offenbar unverletzt.
»Tut mir Leid«, sagte er. »Ich hätte nicht versuchen sollen, dich aufzuhalten. Das war falsch von mir.«
Da hast du allerdings Recht, dachte Julie.
»Und ich hätte dich nicht so anfahren sollen.«
Er seufzte. »Ich hatte nur eine furchtbar harte Woche. Deshalb bin ich auch vorgebeikommen. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung…«
Er klang ebenso aufrichtig wie zerknirscht, aber Julie hob die Hände, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Richard!«, sagte sie.
Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie das Gespräch als beendet ansah. Richard wandte den Blick ab. Er schien ins Leere zu stieren. Das Licht der Verandalampe fiel auf sein Gesicht, und Julie stellte fest, dass sie sich zuvor nicht getäuscht hatte. Wieder schimmerten Tränen in seinen Augen.
Als Richard sprach, klang seine Stimme erstickt und rau.
»Meine Mutter ist diese Woche gestorben«, flüsterte er. »Ich komme gerade von ihrer Beerdigung.«
»Deshalb musste ich dir auch neulich in der Nacht die Notiz an den Jeep klemmen«, erklärte Richard wenig später. »Der Arzt riet mir den frühesten Flug zu nehmen, weil er nicht wusste, ob sie den Tag überstehen würde. Ich habe Dienstag früh die erste Maschine von Raleigh aus genommen, und wegen der ganzen neuen Sicherheitsvorkehrungen musste ich mitten in der Nacht los, um pünktlich da zu sein.«
Ein paar Minuten waren vergangen. Singer war im Schlafzimmer eingesperrt, und Richard saß auf Julies Sofa, den Blick zu Boden gesenkt, immer noch gegen die Tränen ankämpfend. Spontanes Mitgefühl überkam Julie. Nachdem sie die üblichen Floskeln gestammelt hatte – »Es tut mir Leid«, »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« –, verlor Richard völlig die Fassung. Julie saß ihm gegenüber im Sessel, hörte ihm zu und dachte: super Timing, Julie. Du hast wirklich einen Riecher für den besten Moment, um Herzen zu brechen.
»Ich weiß, das Ganze ändert nichts an dem, was du eben auf der Veranda gesagt hast, aber ich möchte nicht, dass wir im Streit auseinander gehen. Dazu habe ich unsere gemeinsame Zeit zu sehr genossen.«
Richard räusperte sich und drückte seine Finger auf die Augenlider. »Es kam nur so plötzlich, verstehst du? Ich war auf deine Worte nicht gefasst.«
Er seufzte. »Zum Teufel, ich bin auf kaum noch etwas gefasst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es da oben war. Wie sie am Ende aussah, was die Schwestern sagten, der Geruch…«
Er schlug die Hände vors Gesicht, und Julie hörte, wie er krampfhaft um Atem rang, mehrmals rasch Luft holte und dann tief ausatmete.
»Ich musste einfach mit jemandem reden. Mit jemandem, bei dem ich weiß, dass er mir zuhört.«
O Mann, dachte Julie. Konnte es überhaupt noch schlimmer kommen?
Sie rang sich ein dünnes Lächeln ab.
»Wir können uns gern unterhalten«, sagte sie. »Wir sind schließlich noch Freunde, oder nicht?«
Richard redete ein paar Stunden lang drauflos, immer wieder das Thema wechselnd: Erinnerungen an seine Mutter, was ihm durch den Kopf ging, als er das Krankenhauszimmer betrat, wie es sich am folgenden Morgen anfühlte, zu wissen, dass er zum letzten Mal ihre Hand hielt. Nach einer Weile fragte Julie, ob er ein Bier haben wollte. Im Laufe des Abends leerte er drei Flaschen. Ab und an verstummte er und stierte zur Seite, mit benommenem Gesichtsausdruck, als wäre ihm entfallen, was er gerade sagen wollte. Dann wieder sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus, als hätte er mindestens einen doppelten Espresso getrunken. Julie hörte geduldig zu. Hin und wieder stellte sie eine Frage. Mehr als einmal sah sie Tränen in seine Augen steigen, aber dann kniff sich Richard in die Nasenwurzel, um sie zurückzuhalten.
Gegen zwei Uhr zeigten das Bier und die emotionale Erschöpfung allmählich Wirkung. Richard begann sich zu wiederholen, seine Zunge wurde langsam schwer. Julie ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen, und als sie zurückkam, bemerkte sie, dass Richard die Augen zugefallen waren. Er hing schlaff in der Sofaecke,
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