Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
regionalen Schulreformen am System. Und das meist, ohne die Lehrer inhaltlich mitzunehmen und darauf vorzubereiten. So ist in Berlin vor einigen Jahren beschlossen worden, dass Kinder statt mit sechs nun schon mit fünf Jahren eingeschult werden sollen. Das klingt vielleicht nicht nach einer großen Veränderung. Entwicklungspsychologisch gesehen ist es jedoch genau das. Die Lehrer sind auf die jüngeren Kinder nicht vorbereitet worden – auch Weiterbildungen gab es nicht. Eine auf diese Weise durchgeführte Reform nutzt keinem. Da findet vermeintliche Innovation auf dem Rücken der Lehrer und auf Kosten der Kinder statt. Die Erkenntnisse liegen auf dem Tisch – jetzt gilt es, sie zu nutzen und ein neues (Lern-)Klima für unsere Kinder zu schaffen.
Wie es auch gehen kann: das Konzept des Autonomen Lernens
Viele Eltern sind mit dem staatlichen Schulsystem nicht zufrieden, der Zulauf auf private Schulen ist enorm. Häufig geht einem Schulwechsel ein entmutigtes und frustriertes Kind voraus, das Schwierigkeiten entweder im Umgang mit den Lehrern oder in Bezug auf die Bewältigung des Unterrichtsstoffs hatte. Nicht selten hängt beides zusammen: Es gibt zu wenig Zeit für eine tragende Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, und wegen der normierten Unterrichtskonzepte fallen viele Kinder durch das staatliche System. Dabei gibt es in Deutschland immer wieder neue Konzepte, die sich bewähren und die die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern in den Vordergrund stellen und damit erfolgreich sind. Die Robert Bosch Stiftung zeichnet jedes Jahr einige dieser Schulen mit dem Deutschen Schulpreis aus.
Zwar nicht mit einem Preis ausgezeichnet, aber dennoch bemerkenswert empfinde ich das beziehungsorientierte Konzept des Autonomen Lernens, das der Schweizer Peter Fratton begründet hat. Er ist Lehrer und Schulleiter gewesen und hat schließlich – aus Unzufriedenheit mit dem staatlichen System – das Konzept des Autonomen Lernens entwickelt und dann auch darauf aufbauende Schulen gegründet.
Das Erste, was auffällt, ist, dass beim Autonomen Lernen großer Wert auf die Lernumgebung gelegt wird. Es ist von der »gestalteten Umgebung« die Rede; der Raum mit seiner Wirkung auf die Gesamtatmosphäre wird in diesem Fall zum »dritten Pädagogen«. Das hat auch der Architekt Peter Hübner erkannt und die Wirkung herkömmlicher Schularchitektur mit diesen Worten beschrieben:
»Man muss als Schülerin nicht eine nackte Betonwand berühren, um zu erkennen, dass man sie nicht mag. Oder man muss als Schüler den viel zu langen geraden Flur nicht durchschreiten, um zu wissen: langweilig, übersichtlich, kein Abenteuer, aber auch kein Entrinnen. Lieber nicht betreten.«
Das Konzept des Autonomen Lernens scheint mir ein eindrucksvolles Beispiel für die Umsetzung dieser Erkenntnis zu sein. Statt Klassenräumen gibt es große Lernateliers, die mit hellen Möbeln und Lernmaterialien ausgestattet sind; in der Bibliothek wird geflüstert, um die anderen nicht zu stören, große Sitzmöbel dämpfen die Gespräche zusätzlich.
Das Konzept gründet zudem auf vier Urbitten. Peter Fratton hat sie gemeinsam mit der Psychologin und Begründerin der Themenzentrierten Interaktion Ruth Cohn entwickelt. Diese Urbitten lauten wie folgt:
»Bringe mir nichts bei, aber lass mich teilhaben.«
»Erkläre mir nicht, aber gib mir bitte Zeit, es zu erfahren.«
»Erziehe mich nicht, aber bitte begleite mich.«
»Motiviere mich nicht, aber dich.«
Was an diesen Urbitten unmittelbar auffällt, ist, dass sie nicht aus der Perspektive der Erwachsenen oder einer Institution formuliert sind, sondern aus der Perspektive der Kinder. Sie drücken außerdem genau das Gegenteil dessen aus, was wir üblicherweise über den Umgang mit Kindern denken, nämlich:
»Wir müssen Kindern etwas beibringen.«
»Wir müssen Kindern alles erklären.«
»Wir müssen Kinder erziehen.«
»Wir müssen Kinder motivieren.«
Es geht bei den Urbitten um eine völlig neue Haltung zu Kindern. Und weil man eine Haltung nicht verordnen kann, sind sie eben als Bitten formuliert.
Auch der Lehrer nimmt nach diesem Konzept eine veränderte Rolle ein. Es ist nicht seine Aufgabe, die Schüler mit allen Mitteln zu einem bestimmten Lernziel zu bringen. Er begleitet sie nur auf ihrem Weg, Erfahrungen zu machen und selbst Lösungen zu finden, um vereinbarte Ziele zu erreichen. Es kann sein, dass es auf diese Weise auch mal länger dauert, bis ein Kind Wege findet und ein Ziel erreicht. Aber wenn
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