Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
möglich, dass sich Schüler in einem eigenständigen Prozess selbstverantwortlich Informationen erarbeiten und so selbstständig Strategien finden, um die gestellten Probleme zu lösen?
Beim Lernen geht es doch nicht nur darum, was wir lernen, sondern vor allem darum, wie wir uns Wissen aneignen. Das Wissen ist unter Umständen Jahre später nicht mehr vorhanden. Wir haben vergessen, wie die Formel lautete, wir haben vergessen, wie der »richtige« Rechenweg nun war. Die Fähigkeit jedoch, dann trotzdem eine Strategie zu finden, mit dem Problem umzugehen, das ist die entscheidende Lernerfahrung. Um nichts anderes geht es doch später im Leben: Wir brauchen Strategien, um die an uns gestellten (Lebens-)Aufgaben bewältigen zu können.
Wir aber glauben, dass es in der Schule der effektivere Weg ist, (Lern-)Prozesse abzukürzen und den Kindern bereits fertig gedachte Wege und Strategien vorzusetzen, statt ihnen zu vertrauen, dass sie diese selbst finden und entwickeln können.
Kann ich bitte ein Problem haben?
Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass Kinder intensiver lernen und ihre Fähigkeiten besser ausbilden können, wenn sie selbst Strategien entwickeln und eigene Erfahrungen machen dürfen, anstatt lediglich einem vorgeschriebenen Weg zu folgen. Es ist vor allem ein physiologischer Vorgang, um den man schon seit mehr als sechs Jahrzehnten weiß – oder wissen könnte.
Der Neurobiologe Gerald Hüther hat diese Erkenntnisse eindrücklich mit einer Untersuchung aus der Tierwelt untermauert: So hat man in den fünfziger Jahren in Südamerika zwei Gruppen von Eseln untersucht und ihre Hirne vermessen. Die einen waren Hausesel, die bestimmte, täglich wiederkehrende Aufgaben zu erfüllen hatten, zum Beispiel Säcke schleppen oder Karren ziehen. Dabei wurden sie von den Bauern regelmäßig gefüttert und versorgt. Die zweite Gruppe waren Wildesel, die in der freien Natur lebten, ihre Nahrung selbst finden und ihre Ohren dafür benutzen mussten, herannahende Feinde auszumachen, die ständig Strategien finden und auf die Probleme, die sich ihnen in freier Wildbahn stellten, reagieren mussten.
Das Ergebnis der Vermessung war frappierend: Die Gehirne der Wildesel waren im Durchschnitt doppelt so groß wie die ihrer domestizierten Artgenossen, denn sie hatten sich aufgrund des komplexeren »Gebrauchs« auch auf sehr viel komplexere Weise strukturiert und vernetzt.
Das Gehirn ist offenbar mit Auswendiglernen und der Reproduktion von Fakten nicht ausgelastet. Vielmehr scheint es sich dann besonders gut zu entwickeln, wenn es ständig verschiedenartige Herausforderungen zu bewältigen hat. Wollen wir, dass unsere Kinder in einer standardisierten und durchorganisierten Welt aufwachsen? Oder dürfen unsere Kinder eigene Erfahrungen machen, sich selbst Strategien aneignen und somit autonom und selbstständig werden, damit sie in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft ein selbstbestimmtes, verantwortungsvolles Leben führen und sich den immer neuen Herausforderungen stellen und diese bewältigen können?
Aber ist es in unserer leistungsorientierten und auf Effizienz angewiesenen Gesellschaft überhaupt sinnvoll und »zielführend«, jedem Kind selbstbestimmtes, autonomes Lernen zu ermöglichen? Sind traditionelle, leistungsorientierte Lernmethoden, die sich an der unterschiedlichen Begabung der Kinder orientieren, nicht doch effektiver im Sinne der Gesellschaft? Ich frage mich, ob solche Zweifel nicht nur vorgeschoben sind. Vielleicht haben wir auch Angst davor, Macht zu verlieren? Angst davor, hierarchische gesellschaftliche Machtstrukturen aufzugeben?
Mit Eltern und Lehrern über diese Fragen zu diskutieren ist spannend. Viele sehen in der Veränderung neue Chancen, manche lassen sich auch verunsichern und halten lieber an Altem fest. Die Frage ist: Haben wir Mut? Trauen wir uns zu, eine neue Form von Lernen auszuprobieren? Vom zuhörenden, nachahmenden und reproduzierenden Lernen hin zum aktiven, selbstständigen und autonomen Lernen. Vom »Beibringen und Belehren« hin zum »Begleiten beim Erfahrungslernen«. Oder trauen wir unseren eigenen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Bezug auf das Lernen selbst (noch) nicht? Warum übernehmen wir hier nicht Verantwortung und verändern ein schwerfälliges, überholtes Modell von Schule und Lernen?
Statt uns diese Fragen wirklich zu stellen und Innovationspotenziale zu nutzen, weichen die Verantwortlichen im Moment lieber aus und schrauben höchstens hier und da mit
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