Du bist zu schnell
merkwürdig, eine Inderin hinter dem Empfang einer psychiatrischen Anstalt sitzen zu sehen. Und als ob Val meine Gedanken gelesen hätte, sagt sie:
-Arbeiten Sie hier wirklich?
Die Frau lächelt.
—Ich bin zur Vertretung da. Meine Schwester bekommt heute ihr drittes Baby. Aber ich mache öfter Vertretung, verstehen Sie?
Theo wendet sich ab und geht zu dem Wasserspender neben dem Eingang. Val beugt sich über die Empfangstheke.
- Könnte ich einen Arzt sprechen?
Die Inderin schüttelt den Kopf.
- Sie können sich aber anmelden. Aber wenn ich Ihnen etwas verraten darf...
Sie beugt sich auch über die Empfangstheke.
- Sie werden Dr. Lorrent auch nicht finden, wenn Sie mit den Ärzten reden. Sie hat Urlaub bis zum Ende des Monats und kommt erst am 5. Januar wieder zur Arbeit. Das dürfen Sie mir glauben.
Val sieht an mir vorbei zum Ausgang. Ich kenne das, sie ist hier noch nicht fertig. Es ist eine Eigenart von ihr, den Leuten das Gefühl zu geben, sie würde kapitulieren.
—Wissen Sie, ob wir Dr. Lorrent telefonisch erreichen können? frage ich.
Bedauernd schüttelt die Inderin den Kopf.
-Wir dürfen weder Telefonnummern noch Adressen unserer Ärzte herausgeben, das müssen Sie verstehen. Oh, entschuldigen Sie, ich habe einen Anruf auf Leitung 2.
Sie lächelt mich an und nimmt den Anruf entgegen.
- Das bringt nichts, sagt Val, Wir gehen zur Offenen.
Sie knöpft ihren Mantel zu und marschiert aus der Anstalt.
—Wo will sie hin? fragt Theo.
- Zu den Irren, sage ich.
Die geschlossene Anstalt unterscheidet sich von der offenen nicht nur durch die Tatsache, daß die Patienten das Gebäude nicht verlassen dürfen. In der Geschlossenen sind die Regeln strikter; der Zeitplan eng und nach Vals Meinung der einzige Grund, warum man wahnsinnig werden könnte. In der Offenen dürfen die Patienten auf das umliegende Gelände, sie müssen nicht auf ihrem Zimmer sein oder auf den Fluren herumstehen und einen Zeitplan befolgen.
- Natürlich gibt es auch in der Offenen einen Zeitplan, sagt Val, Aber der ist eher für die, die nicht wissen, was sie tun sollen. Da vorne ist es.
Etwa fünfzig Meter entfernt stehen drei Männer vor einem roten Ziegelsteinbau, der mich sehr an mein Gymnasium erinnert. Der eine Mann in einer knallbunten Jacke, die einem Teenager gestanden hätte, die anderen beiden in grauen Mänteln und mit Baseballmützen auf den Köpfen. Sie nehmen alle zehn Sekunden einen Zug von ihren Zigaretten, die sie in der hohlen Hand verstecken, dabei treten sie von einem Fuß auf den anderen und atmen den Rauch durch die Nase aus.
- Normalerweise hat jede Stadt ihre Dauerpsychotiker, erklärt Val, als Theo sie fragt, was wir in der Offenen verloren haben, Sie kommen und gehen und kommen und gehen und sind eigentlich in der Anstalt mehr zu Hause als in ihren Wohnungen. Wenn wir schon meine Ärztin nicht sprechen können, vielleicht haben wir Glück, und ich treffe hier jemanden aus der Zeit, als ich selbst drin war.
Val verstummt, als ein Pärchen an uns vorbeiläuft. Sie hält ihn am Arm und bewegt sich wie eine Hundertjährige. Er läßt die Füße schleifen, als wäre jeder Schritt sein letzter. Sie sind beide keine dreißig Jahre alt.
- Können wir da einfach so rein? frage ich, als das Pärchen außer Hörweite ist.
Val lacht.
- Nichts zu machen, außer du bist Besucher und angemeldet. Wir warten draußen.
Und da sitzen wir jetzt seit einer Stunde auf einer Parkbank gegenüber von der Offenen und frieren. Die drei Männer vor dem Backsteingebäude haben ein paarmal zu uns rübergesehen und dann das Interesse verloren. Bisher kamen nur zwei Frauen heraus, keine von ihnen war Val bekannt.
- Du bereust es, nicht wahr? wende ich mich an Theo.
Er zuckt mit den Schultern.
- Es ist kein richtiges Bereuen. Ich hätte zu Hause so oder so nichts mit mir anfangen können.
- Zumindest hättest du nicht gefroren.
- Du sagst es.
Ich stehe auf und gehe ein paarmal um die Parkbank. Eine Frau schaut aus dem Eingang des Backsteinbaus und ruft die Männer rein. Sie winkt uns, ich winke zurück, sie winkt noch einmal, ich höre auf zu winken, sie verschwindet.
- Komm, setz dich, sagt Val und klopft neben sich.
-Was war mit der? frage ich.
- Das war eine der Tagesschwestern. Wahrscheinlich hat sie dich für einen Patienten gehalten.
Val sieht auf ihre Uhr.
—Wir liegen gut in der Zeit, gleich wird Mittag gegessen. In
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