Du denkst, du weißt, wer ich bin
klopfte feste daran. »Süße?« Mirandas Stimme war sanft. Sanft wie eine Liebkosung. »Komm. Mach auf.«
Es folgte eine lange Pause, endlich das Geräusch eines sich öffnenden Türschlosses. Einen Moment später stand Katie im Türrahmen – eine gräuliche Silhouette gegen die superhelle Beleuchtung des Badezimmers.
Miranda streckte den Arm aus und berührte ganz leicht Katies Arm, woraufhin sich deren winzige Härchen sofort aufstellten. »Möchtest du, dass ich gehe?«, fragte sie. »Denn wenn du das möchtest, sag es nur und ich bin weg«, sie schnipste mit den Fingern, »wie nichts.« Es klang irgendwie bedrohlich.
Katies Augen – schon blutunterlaufen vom Heulen – begannen sich wieder mit Tränen zu füllen. »Bitte geh nicht. Ich möchte, dass du bleibst.«
Mirandas Gesicht drehte sich mir zu – triumphstrahlend.
»Du musst Katie erklären, in welcher Gefahr sie steckt«, drängte Ami leise. »So, dass sie es versteht.«
»Katie«, sagte ich. »Denk doch mal an alles, was sie dir angetan hat. All die Dinge, die sie dir genommen hat. Sag, sie soll gehen.«
Aber Katie schüttelte den Kopf. »Ich möchte, dass sie bleibt.«
Die Krankenschwester kam dazu und führte Katie zum Bett. »Schluss mit diesem Unsinn.«
Als Katie in die Kissen zurückgelehnt wurde, setzte sich Miranda auf den Platz neben dem Bett, auf dem ich noch einen Moment vorher gesessen hatte.
»Ich muss mich um den Servierwagen kümmern«, sagte die Krankenschwester in meine Richtung, als sie den Raum verließ. »Wenn ich zurückkomme, möchte ich von dir hier nichts mehr sehen.« Miranda lächelte. Ich gewinne , bedeutete das Lächeln. Du verlierst.
Ich hatte das Gefühl, als ob alle – Miranda, Katie, Ami – mich ansehen würden. Darauf warteten, dass ich etwas tun würde.
Amis Gesicht überzog sich mit Wut. »So soll sie uns nicht davonkommen! Olive, du musst etwas tun!«
Ich habe so viele Male über diesen Moment nachgedacht. Was ich hätte tun können. Vielleicht hätte ich Katie packen und zur Tür stürzen sollen. Sie sah so leichtgewichtig aus, dass ich sie hätte tragen können. Aber wohin sollten wir gehen? Vielleicht hätte ich der Krankenschwester hinterherrennen sollen und erklären, dass Miranda die letzte Person war, der man Katie anvertrauen konnte. Aber was sollte das bezwecken? Katie wollte nicht gerettet werden.
Ami stand neben mir, flüsterte mir zu und schob mich vorwärts. »Sag’s ihr. Sag Katie, was Miranda ist. Du musst es tun, Olive. Es ist die einzige Möglichkeit.«
Miranda sprach mit Katie in einem gruseligen Singsang. Sie strich ihr übers Haar. »Du wirst so lustig aussehen, wenn du erst fett bist. Keins deiner Kleider wird dir mehr passen. Dann musst du sie alle weggeben.«
Ich ging einen Schritt auf Miranda zu, weil ich nicht wollte, dass meine Worte vom Summen der Klimaanlage geschluckt würden. »Ich weiß, was du bist.«
Ami nickte.
Miranda sah zu mir hoch. »Ach, ja?«, sagte sie, und plötzlich bildete etwas Kaltes und Hartes Misstöne in ihrem Wiegenlied. »Was bin ich denn?«
»Du bist ein Parasit. Ein Shapeshifter.« Als ich das Wort erst ausgesprochen hatte, brach alles andere auch heraus. »Du schleichst dich unter die Haut von jemandem. Du saugst sie aus, bis nichts mehr von ihnen übrig ist.«
Etwas flammte da in Mirandas Gesicht auf. Vielleicht Schock? Oder Angst. Bevor ich es entziffern konnte, wurde es schon wieder von Mirandas lautem, wütendem Gelächter verdrängt. »Hast du eine Ahnung, wie krank du dich anhörst?« Dann wich der Ärger, und ich sah etwas in ihren Augen glühen, scharf und grell. »Aber das genau weißt du ja nicht.«
Ich runzelte die Stirn. »Was soll das denn heißen?«
»Olive«, sagte Ami plötzlich ganz aufgewühlt. Sie zog an meinem Arm. »Lass es uns vergessen. Wir haben einen Fehler gemacht. Einen großen Fehler. Lass uns gehen.«
»Ich gehe nirgendwo hin«, murmelte ich und schüttelte sie ab. Mit meinen Blicken fixierte ich Miranda. »Sag mir, was du damit meinst?«, befahl ich.
Mirandas Oberlippe zog sich zurück. »Du hattest einen Zusammenbruch, das stimmt doch? Hast versucht, dich umzubringen und landetest hier, in diesem Krankenhaus.«
Einmal, als ich noch ein kleines Kind gewesen war, hielt ich meine Hand in die Tiefkühltruhe, ungefähr fünf Minuten, nur um zu spüren, wie es sich anfühlte. Meine Fingerspitzen wurden weiß, und es dauerte eine Stunde, bis sie sich wieder normal anfühlten. Diese Kälte war nichts im Vergleich
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