Du denkst, du weißt, wer ich bin
zu dem, was ich jetzt gerade erlebte.
»Mir geht es jetzt wieder besser«, brachte ich mit heiserer Stimme hervor. Und das stimmte doch – oder? Ich hatte meine Babyschrittchen hinter mir. Nahm meine Medizin – jedenfalls meistens.
Da fing Ami an zu weinen. Seltsam – ich hatte sie noch nie weinen sehen. Nicht einmal, als sie mir erzählt hatte, dass ihr Dad gegangen war und wie schwer das für sie gewesen war. »Bitte, Olive«, flehte sie. »Bitte lass uns einfach gehen.«
Ich sah sie nicht an. Das ist das, was ich am meisten bereue. Ich habe mich nicht umgedreht und Ami ein letztes Mal angesehen. Aber inzwischen hatte mein Kopf auch schon begonnen, sich zu drehen, und ich konnte meine Blicke nicht von Miranda losreißen, vor allem nicht von diesem hässlichen kleinen Lächeln auf ihren Lippen.
»Du meinst also wirklich, dass es dir besser geht?«, schnaubte Miranda. »In deinem Alter eine imaginäre Freundin zu haben, findest du also normal ?«
Die Standuhr tickte. In einer Minute würde Katies Zimmertür sich öffnen, und der Servierwagen würde von einer Frau in einer plumpen blauen Schwesterntracht und weich besohlten Schuhen hereingeschoben werden. Der Geruch nach fettem Lamm und wässrigem Gemüse würde sich im Raum breitmachen. Zusammen mit dem Wagen käme die Schwester und würde prüfen, ob ich gegangen wäre. Sie käme gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie meine Augen sich verdrehten und mein Körper schwankte. Sie würde es sein, die herbeigeeilt käme, um mich aufzufangen. Sie würde mir den Puls fühlen und um Hilfe rufen. Krankenträger würden mit einer Trage kommen und mich wegbringen.
Aber noch passierte nichts von all dem. Die Tür zu Zimmer 12 blieb noch geschlossen. Miranda sah sich mit diesem Blick amüsierter Neugierde um. »Ist Ami jetzt hier irgendwo?«, fragte sie. »Ich wette, ja! Ich merke es immer daran, dass du dann so merkwürdig vor dich hin murmelst. Kannst du sie mir zeigen, Olive? Ich würde so gerne wissen, wo du sie vermutest.«
Ich sah mich nicht um. Der Zauber war gebrochen. Ich wusste, dass, wenn ich mich umdrehen würde, Ami verschwunden wäre. Für immer. Die Uhr tickte immer weiter. Mir wurde schwarz vor Augen, und meine Beine gaben nach.
VIERZEHN
»Okay, Olive. Machen wir mit unserem Atmen weiter.« Doktor Richter hatte wieder ihr aufmunterndes Lächeln aufgesetzt. »Ein … und aus. Genau so. Halte den Brustraum weit und die Atemwege schön offen.«
Während ich atmete , sah ich aus dem Fenster in den Garten. Die Leute, die ihn pflegten, schienen den Auftrag zu haben, alles glatt und ruhig zu halten. Nichts Hässliches. Nichts Störendes. Blumen wurden entfernt, bevor sie eine Chance hatten zu welken oder die Köpfe hängen zu lassen. Es gab nichts Eckiges oder Spitzes. Alles war weich und glatt und perfekt hier in Crazy-Land.
Das am solidesten aussehende Teil im Garten war die Hecke. Ich nehme an, das lag daran, dass die Hecke nicht nur dazu da war, dass man sie bewunderte, sie erfüllte auch einen Zweck. Sie sollte die Patienten vor der Außenwelt beschützen, und die Außenwelt vor uns.
Nachdem ich erst genug geatmet hatte, nickte Doktor Richter und glättete eine unsichtbare Falte an ihrem Rock. Ich versuchte mir manchmal vorzustellen, dass Doktor Richter etwas tat, das nicht gepflegt oder elegant war. Du weißt schon. Wie fluchen, wenn sie versehentlich mit dem Zeh irgendwo anstieß. Oder einen Popel aus der Nase holen. Aber das war schlicht unmöglich.
»Deine Mum wird bald hier sein«, meinte Doktor Richter. »Bist du so weit? Kann es nach Hause gehen?«
»Ja«, sagte ich. »Alles gepackt.« Nicht, dass ich so besonders viel bei mir gehabt hätte. Ein paar Sachen zum Wechseln. Schlafanzüge. Zahnbürste. iPod. Die geschredderten Überbleibsel meiner Würde.
Als Doktor Richter lachte, klang es, als würden Regentropfen sanft auf Blütenblätter fallen. Versteh mich nicht falsch – Doktor Richter war schon ganz in Ordnung. Sie hatte mir in der Vergangenheit geholfen, mir Strategien und so ein Zeug beigebracht. Aber ich fragte mich, ob sie überhaupt eine Ahnung hatte, wie es war, wie ich zu sein.
»Ich meine, bist du bereit, wieder ins Leben zurückzukehren? Deine Reise in robuste mentale Gesundheit als ambulante Patientin zu beginnen?«
Doktor Richter ließ dieses Gespräch lässig klingen, jedenfalls ihre Version von lässig. Aber das war es natürlich nicht. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, das heißt, als ich versucht hatte, mich
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