Du findest mich am Ende der Welt
einmal wuÃte, wie sie aussah.
Das kleine Rätsel, das sie mir groÃzügigerweise zugedacht hatte,
brachte mich natürlich keinen Schritt weiter. Nun gut â zumindest wuÃte ich
jetzt, daà es jemand war, den ich sah und kannte. Ohne ihn allerdings wirklich zu sehen oder zu kennen. Denn das war ja wohl
gemeint mit dem spitzfindigen Zweizeiler meiner kleinen Sphinx, der â ich
täuschte mich nicht â einen vorwurfsvollen Unterton trug.
Bei dieser Vorgabe kamen viele Damen aus meiner Umgebung in Frage.
Im Grunde hätte es sogar Odile, die Tochter des Bäckers, sein können, die mir
immer mit diesem scheuen Lächeln die Croissants verkaufte. Ein junges Mädchen,
ein stilles Wasser, das â wer wuÃte das schon â vielleicht eine romantische
Seele unter ihrem Busen verbarg. Selbst Mademoiselle Conti konnte ich nicht
ausschlieÃen. Hatte ich mich je ernsthaft gefragt, welche Abgründe sich
möglicherweise hinter dieser kleinen Gouvernante für ungezogene Hotelgäste
verbarg? Oder war es doch Madame Vernier? Der Hinweis auf Cézanne kam mir
plötzlich in den Sinn. War das etwa eine heiÃe Spur? Charlotte konnte es
jedenfalls nicht gewesen sein, die hatte eine andere Schrift gehabt, allerdings
war sie die einzige, die mich »mein kleiner Champollion« genannt hatte und vom
Stein von Rosette schwadronierte.
Nachdenklich druckte ich die Briefe aus. So ganz unrecht hatte mein
Freund Bruno nicht, wenn er meinte, es könne sich um eine Frau handeln, der ich
nicht genug Aufmerksamkeit entgegenbrachte oder entgegengebracht hatte. Ich
räumte das Geschirr in die Spüle, griff nach meiner Jacke und machte mich auf
den Weg in die Galerie du Sud.
Es war bereits halb zwölf, und auch ich hatte Tagesgeschäfte, denen
ich nachgehen muÃte.
7
In Saint-Germain herrschte an diesem
frühlingshaften Samstag ein buntes Treiben. Die Einheimischen suchten sich
zielstrebig ihren Weg durch die kleinen StraÃen, die von Touristen bevölkert
waren, die an jeder Schaufensterauslage stehenblieben und sich die Nase
plattdrückten. Verliebte Paare schlenderten Arm in Arm auf den schmalen
Trottoirs. Autos hupten, Motorradfahrer knatterten vorbei, vor dem Deux Magots
saÃen die Menschen in der Sonne und schauten zufrieden auf die Kirche von St-
Germain-des-Prés. Man begrüÃte sich, KüÃchen rechts, KüÃchen links, man redete,
rauchte, lachte und rührte in seinem Café Crème oder Jus dâorange. Ganz Paris
schien gut gelaunt, und die gute Laune war ansteckend.
Beschwingt lief ich die Rue de Seine hinunter, ein
leichter Windstoà fuhr mir durch die Haare, das Leben war schön und voller
wunderbarer Ãberraschungen. Zwei elegant gekleidete Herren verlieÃen gerade die
Galerie du Sud, sie lachten und gestikulierten animiert mit den Händen, bevor
sie in der nächsten SeitenstraÃe verschwanden.
Ich stieà die Tür zur Galerie auf. Im ersten Moment hatte ich das
Gefühl, keiner wäre da, doch dann sah ich Marion, und mir verschlug es die
Sprache.
Diesmal hatte sie wirklich den Vogel abgeschossen!
Sie saà auf einem der vier lederbespannten Barhocker, die im
hinteren Teil des Raumes an einer kleinen Espresso-Theke standen, und feilte
sich summend die Fingernägel. Ihre langen Beine wurden notdürftig von einem
dunkelbraunen Wildlederfetzen bedeckt, bei dem man nicht genau sagen konnte, ob
es ein Rock war oder doch eher ein breiter Gürtel. Die weiÃe Bluse, die sie
darüber trug, stand endlos weit auf und erlaubte tiefere Einblicke, als sie für
eine Strandbedienung auf Hawaii schicklich gewesen wäre.
»Marion!« rief ich.
»Aaah, Jean-Luc!« Erfreut lieà Marion die Nagelfeile sinken und
rutschte den Hocker herunter. »Gut, daà du kommst. Bittner hat eben hier
angerufen und fragt nach, ob ihr euch heute noch treffen könnt.«
»Marion, das geht wirklich nicht«, erklärte ich empört.
»Dann rufst du ihn am besten gleich an«, entgegnete Marion
unbefangen.
»Ich meine deinen Aufzug.« Ich musterte sie ungläubig. »Also
wirklich, Marion, du muÃt dich schon entscheiden, ob du als Animatrice im Club
Med arbeiten willst oder in einer Galerie. Was soll denn das für ein
Lendenschurz sein, das ist doch nicht dein Ernst, oder?«
Marion lächelte. »Scharf, was? Den hat Rocky mir gekauft.« Sie
drehte sich einmal um die eigene Achse. »Du
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