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Du findest mich am Ende der Welt

Du findest mich am Ende der Welt

Titel: Du findest mich am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Barreau
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tun, um es herauszufinden?«
fragte ich einen Moment später.
    Aristide wiegte nachdenklich sein Haupt. »Wie schon Georges Sand
sagt: L’esprit cherche et c’est le cœur qui trouve. Der
Verstand sucht, und es ist das Herz, das findet. Diese Principessa ist auf
jeden Fall eine belesene Frau, denn sie wählt den Stil der französischen
Literatur des achtzehnten Jahrhunderts für ihre Camouflage. Vielleicht kannst
du mir die Briefe bei Gelegenheit einmal zeigen – in meiner Eigenschaft als
Literaturprofessor selbstverständlich.« Er lächelte. »Mag sein, daß sich dort
irgendwelche Anspielungen oder Versatzstücke finden lassen, die uns einen
Hinweis geben.«
    Â»Aber warum versteckt sie sich überhaupt hinter diesen Briefen?«
fiel ich ungeduldig ein. »Das ist doch lächerlich!«
    Â»Nun, sie hat offenbar ihre
Gründe, und natürlich ist etwas Geheimnisvolles spannender als die nackte
Wahrheit. Sieh dich doch an! Jede Frau, die du kennst oder kanntest, bekommt
mit einem Mal diesen Zauber des Mysteriösen. Du betrachtest die schlafende
Soleil und fragst dich, könnte sie es sein? Du siehst eine Frau mit
silberblonden Haaren am Bahnsteig und meinst ein Mädchen zu sehen, in das du
dich vor langer Zeit verliebt hast. Und wenn dir morgen die hübsche Bedienung
im Deux Magots einen Moment zu lange zulächelt, wirst du auch diese mit anderen
Augen ansehen. Das Geheimnis erhebt das Normale in den Stand des
Außergewöhnlichen.«
    Gebannt lauschte ich Aristides kleiner Vorlesung, die meinen Zustand
so genau beschrieb. Der Professor ließ es sich nicht nehmen, jetzt ein Beispiel
anzuführen.
    Â»Stell dir vor, ich halte dir eine Orange hin und schenke sie dir.
Und jetzt stell dir vor, ich halte dir etwas hin, was in ein Tuch gehüllt ist,
und sage: Ich habe hier etwas ganz Besonderes, und erst, wenn du errätst, was
es ist, schenke ich es dir. Welcher der beiden Orangen schenkst du die größere
Aufmerksamkeit?«
    Aristide machte eine kleine rhetorische Pause, und ich dachte über
die Liebe zu den zwei Orangen nach.
    Â»Wenn du bereits nach dem ersten Brief gewußt hättest, daß es –
sagen wir – die nette Bäckerstochter oder deine Nachbarin aus dem Parterre ist,
wäre dein Interesse sicherlich rasch erloschen. Selbst die schöne Lucille wäre
dann irgendwann eine Sphinx ohne Geheimnis. So aber züngelt die Flamme der
Ungewißheit in dir, und das Feuer brennt weiter. Du läßt dich auf diesen
Briefwechsel ein, du denkst stundenlang über die Dinge nach, die dir diese Frau
schreibt. Sie läßt dir keine Ruhe. Und schon jetzt sind ihre Briefe deine
tägliche Droge.«
    Ich versuchte schwach zu protestieren, doch Aristide war nicht mehr
aufzuhalten. »Ich muß sagen, diese Principessa gefällt mir. Sie ist eine kluge
Frau, denn sie versteht es, deine volle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, dich
gar ein wenig zu erziehen – und zwar wohlgemerkt nur durch die Macht der Worte.
Das ist wunderbar! Es erinnert mich ein bißchen an Cyrano de Bergerac.«
    Â»Du meinst diesen Liebesbriefschreiber mit der riesigen Nase, der
sich nicht traute, sich seiner Angebeteten zu zeigen, weil er sich zu häßlich
fand, und ihr immer nur Briefe schickte?«
    Aristide nickte. »Hast du die Briefe mal im Original gelesen? Sie
sind unglaublich! Incroyable! «
    Plötzlich wurde mir heiß und kalt.
    Â»Du willst damit aber jetzt nicht sagen, daß meine Principessa in
Wirklichkeit häßlich ist wie die Nacht und daß sie sich nur hinter ihren
schönen Worten versteckt?« fragte ich beunruhigt. Ich muß gestehen, daß ich
eine solche Möglichkeit überhaupt noch nicht in Betracht gezogen hatte.
    Aristide lachte über meine erschreckte Miene. »Beruhige dich! Ich
glaube nicht, daß abgrundtiefe Häßlichkeit der Grund für dieses Versteckspiel
ist. In deiner Umgebung gibt es doch gar keine häßliche Frauen, oder?« Aristide
kicherte in sich hinein.
    Â»Mag sein, daß die Principessa eine große Nase hat – warum
fragst du sie nicht einfach? Sie wird um eine Antwort sicher nicht verlegen
sein.«
    Bis halb neun hatte ich mit Aristide
draußen im Café gesessen und geredet. Eine weitere Flasche Merlot hatte dran
glauben müssen, bei der man mit wachsendem Enthusiasmus weitere Details und
Möglichkeiten erörterte. Ich hatte meinem Freund

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