Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du findest mich am Ende der Welt

Du findest mich am Ende der Welt

Titel: Du findest mich am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Barreau
Vom Netzwerk:
Cafés
herrschte ein buntes Treiben, wie man so sagt, und auch ich ließ mich treiben.
Ich trieb vorbei an einem Geschenkeladen der besseren Art, wo es altmodische
Heißluftballons aus Papier, Piratenschiffe und Spieluhren gab, vorbei am
Procope, einem der ältesten Restaurants von Paris, vorbei an einem schönen
Schmuckgeschäft, das den verheißungsvollen Namen Harem trug und alle Schätze
des Orients in sich vereinte. Schmuck glitzerte in bunten Farben durch die
Schaufensterscheibe, vor der eine stattliche junge Frau mit locker
hochgebundenem Haar und smaragdgrüner Tunika verzaubert stehengeblieben war.
Als ein verliebtes Pärchen ebenfalls vor dem Schaufenster stehenblieb, rückte
das Mädchen in der grünen Tunika ein Stück zur Seite und drehte sich dabei
zufällig in meine Richtung. » Bonjour, Monsieur Champollion! «
    Sie
nickte mir zu und lächelte verlegen.
    Ich muß gestehen, daß ich nach den Ereignissen dieses
Sonntags nichts mehr für ausgeschlossen hielt. Nicht einmal, daß mich fremde
Frauen auf der Straße mit meinem Namen ansprachen. Wie ein verzauberter Prinz
tastete ich mich durch ein Märchen, in dem mir wundersame weibliche Wesen
begegneten, die mir Rätsel aufgaben und wieder verschwanden, ganz wie es ihnen
beliebte.
    Ich sah das Haremsmädchen in der grünen Tunika an.
    Auf
den zweiten Blick kam sie mir bekannt vor, dennoch erkannte ich sie nicht.
    Ist es Ihnen schon einmal passiert, daß Sie
beispielsweise in den Ferien irgendwo am Strand sagen wir mal … plötzlich die
Grundschullehrerin Ihres Sohnes sehen? Statt wie sonst im Klassenzimmer steht
sie nun vor einer völlig veränderten Kulisse aus Himmel und Meer, und Sie
starren sie an, Ihnen ist so, als ob Sie dieses Gesicht irgendwoher kennen,
doch herausgelöst aus dem vertrauten Zusammenhang, kann Ihr Gehirn dieses Bild
nicht mehr einordnen. Das beste Beispiel für unser vernetztes Denken.
    Das
Haremsmädchen strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr zurück und wurde rot.
    Â»Hallo, Odile«, sagte ich.
    Während ich ein paar freundliche Worte
mit der schüchternen Verkäuferin aus der Boulangerie in meinem Viertel
wechselte, kam mir nicht zum ersten Mal in diesen Tagen der Gedanke, daß das menschliche
Auge, so großartig es auch ist, nur die Oberfläche aller Dinge zu erfassen
vermag. Unser Blick gleitet darüber hinweg, gesteuert von einer subjektiven
Wahrnehmung, die uns die Dinge nur in einer sehr beschränkten Wirklichkeit
sehen läßt – nämlich unserer eigenen, die sich aus dem zusammensetzt, was wir
erwarten und was wir erfahren haben.
    Doch
manchmal fällt das Licht aus einem anderen Winkel und straft unsere
Wirklichkeit Lügen. Und dann wird aus der molligen Bäckerstochter plötzlich
eine Haremsdame, die – wieso eigentlich nicht? – genausogut eine Principessa
sein kann wie ein zauberhaftes Mädchen aus unserer Vergangenheit oder jemand,
an den wir im Moment noch gar nicht denken.
    Sie sehen mich und sehen mich nicht , hatte
die Principessa geschrieben. Die Weisheit ihrer Worte hatte etwas Universelles.
    Sah man nicht die meisten Menschen, ohne sie zu sehen? Und wie
leicht konnte es passieren, daß man etwas übersah, zum Beispiel den einen
Menschen, nach dem jeder von uns sucht?
    Â»Diese Tunika steht Ihnen sehr gut«, sagte ich, als ich mich von
Odile verabschiedete. Odile lächelte und senkte den Blick.
    Â»Doch, doch … Sie sehen darin aus wie eine orientalische
Prinzessin.«
    Â»Also wirklich … Monsieur Champollion …« Odile schüttelte den Kopf,
aber ihre Augen glänzten. »Was Sie so für Sachen sagen … also, na ja … danke
jedenfalls. Vous êtes très gentil. Und einen schönen
Sonntag noch! Bis morgen!«
    Sie machte ein paar Schritte und hakte sich dann bei einem jungen
Mann unter, der mit einer Zeitung unter dem Arm im Eingang der Passage
aufgetaucht war und ihr entgegenkam.
    Â»Bis morgen, du schöne Königin von Saba«, sagte ich leise, aber
das hörte Odile nicht mehr.
    Ich schlenderte weiter, und es war bereits halb fünf, als ich
zu einem Straßencafé kam, wo draußen, umgeben von ein paar jungen Menschen,
rauchend und diskutierend, eine cocteauhafte Gestalt saß. Cézanne bellte
erfreut und zog an seinem Strick, und auch ich freute mich und begrüßte
Aristide, der mit ein paar seiner Studenten im

Weitere Kostenlose Bücher