Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Entlassung ein, da heißt es an den Freund: W ussow ist natürlich ganz entzwei, auch ich werde ihn entbehren; denn einen, der so unbedingt auf uns hält, findet man so leicht nicht wieder . Die Briefe aus der Heimat bringen neueste Nachrichten. So hat Schwiegervater Esmarch schon am 4. Januar ausführlich und anschaulich aus Segeberg über die Geschehnisse in der Heimat und im Hause Esmarch berichtet. Die Landsleute seien mitgerissen: Alles politisirt jetzt, Reich u. Arm, Vornehm u. Gering, Alt und Jung, die Politik verschlingt Alles.
Der dänische König Frederik VII. ist am 15. November 1863 auf Schloss Glücksburg an der Flensburger Förde kinderlos gestorben. Sein Nachfolger wird laut 2. Londoner Protokoll (8. 5. 1852) der »Protokollprinz« Christian IX. Schon drei Tage nach der Amtsübernahme unterschreibt der neue König eine neue Verfassung, die der dänische Reichsrat mit 40 gegen 16 Stimmen soeben (13. 11. 1863) beschlossen hat. Diese Verfassung entspricht eiderdänischen Vorstellungen, die auf die Einverleibung Schleswigs zielen. Damit bricht der König gleich zweimal geltendes Recht: einmal den seit über vierhundert Jahren gültigen Vertrag von Ripen, wonach Schleswig und Holstein »Up ewig ungedeelt« sein sollen, und darüber hinaus das Londoner Protokoll, das dem dänischen König den Griff nach Schleswig untersagt und die gleichberechtigte Behandlung der deutschen und dänischen Nationalität verlangt.
Christian IX. sitzt in der Zwickmühle: Verweigert er die Unterschrift, dann kommt er bei seinen Landsleuten in Teufels Küche; seine Königstage wären gezählt. Leistet er die Unterschrift, dann bricht er internationales Recht. Das scheint die dänischen Politiker nicht zu interessieren, sie raten ihrem Herrscher in grotesker Überschätzung der eigenen Lage zur Unterschrift, schielen nach Schweden und flüstern ihm nicht ohne Rückversicherung ein, der skandinavische Nachbar sei auf dänischer Seite.
So trägt auch Schweden seine Mitverantwortung am Schicksal der Herzogtümer. Während Dänemark internationales Recht bricht und so tut, als sei das in Ordnung, sitzt da einer in Preußen, der das registriert und Punkte sammelt: Bismarck.
Keine Punkte sammelt Bismarck bei Storms Schwiegervater Esmarch: Bismarck ist der größte Feind unserer Sache und auf seine Entfernung müsste das preußische Volk dringen, schreibt er an Theodor . Im Land ist die Meinung über den preußischen Staatsmann geteilt; geteilt ist aber auch in der Familie Esmarch, denn Gustav Nissen und Ernst Stolle, Schwiegersöhne wie Storm, sind Bismarck-Anhänger. Was sie denken, hat Constanze schon im November 1863 berichtet: Bismarck sei der größte Mensch seines Jahrhunderts. Davon soll auch Stolles Weihnachtsbaum erzählen, der in diesem Jahr mit einer deutschen und einer schleswig-holsteinischen Fahne geschmückt wird.
Selber durch die politischen Geschehnisse in Gemütsbewegung geraten, berichtet Storms Schwiegervater voller Anteilnahme, bunt und lebendig. Die Dänen immer voll Lug und Trug sind Weihnachten 1863 mit ihren Soldaten noch in Segeberg einquartiert. Den von ihrem König begangenen Rechtsbruch beantwortet der deutsche Bundestag in Frankfurt am 15. Dezember mit einem Ultimatum: Abzug der dänischen Truppen aus Holstein binnen sieben Tagen. Die Dänen verlassen Segeberg mit den Worten Vi gaar, men vi kommer igen (Wir gehen, aber wir kommen wieder). Bundestruppen aus Hannover und Sachsen rücken nach. Wir bekamen ganz kurz vor der Ankunft der Sachsen die Nachricht, daß wir einen Officier bekommen würden . Der Kitzel im Reizwort »Offizier« wirkt umgehend bei den Esmarch-Frauen: Du kannst Dir denken, wie Mutter und Sophie in Schuß kamen. Der neunzehnjährige Artillerieleutnant aus Sachsen, unverdorben, kindlich beinahe noch, bekommt ein warmes Zimmer und etwas zu essen à la fortune du pot (was gerade im Topf ist).
Esmarch setzt auf Herzog Friedrich VIII. von Augustenburg als Haupt eines von Dänemark unabhängigen Schleswig-Holstein, das dem deutschen Bund angehört. In einem kurzen Rausch huldigen viele Schleswig-Holsteiner dem Herzog. Der Mann ist eine Mogelpackung; mit Demokratie, die man sich erhofft, hat er nichts im Sinn; er setzt, wie Bismarck, ganz auf das alte Pferd des Herrschers von Gottes Gnaden. Aber auch für Bismarck kommt der Herzog nicht in Frage, er passt nicht in seine Pläne.
Wie sollen die Menschen in den Herzogtümern einen demokratischen Staat erschaffen? Wo gibt es staatliche
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