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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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Uhland und kein Mörike. Deren Gedichte lernte Storm erst später auf dem Lübecker Katharineum und in Kiel während des Studiums kennen, und er nahm sie auf mit brennender Neugierde wie etwas lange Ersehntes, das nun in fassbarer Gestalt vorlag. Er verfiel ihnen mit einer Leidenschaft, die ihn wie eine Liebe niederzwang. Die Lübecker Erfahrung hat Storms Blick auf die Husumer Gelehrtenschulzeit getrübt. Sein Urteil folgt einer Selbsttäuschung, ein Storm-typisches Verhaltensmuster.
    Vor allem die Klassik sollte der Gelehrtenschüler verstehen lernen, Homer und Horaz, Lukian und Livius. Griechisch und Latein standen obenan. Odysseus’ Wagemut und Penelopes Treue, Großes und Schönes sollten ihm einleuchten. Und das Einleuchten konnte besser und tiefer greifen, wenn Auswendiggelerntes vorgetragen wurde. Storm erinnert sich: Ob droben in der Tertia der nun abgesetzten »Gelehrtenschule« das halbzerschnittene Pult noch steht, vor dem ich einst »Üb immer Treu‘ und Redlichkeit« so weltvertrauend deklamierte? Nach vorne kommen, sich umdrehen, mit dem Gesicht zur Klasse stehen und ein Gedicht aufsagen ist nicht jedermanns Sache. Der Schüchterne wird sich zurückhalten, dem Ängstlichen wird es die Sprache verschlagen. Wer die Stirn hat und sich traut, wird sich melden und den Gang nach vorne gehen. Storm hat sicher die Stirn gehabt, er stand gern im Blickpunkt der anderen.
    Näher als die antiken Verse gingen ihm sicher die beiden ersten Verse in Höltys Gedicht »Der alte Landmann«; sie waren noch nicht so alt und leuchteten auf besondere Weise ein, denn sie hätten auch dem Geistesvorrat eines anderen »Landmannes« entstammen können: Vater Storm. Sie passen in sein Denken und in seine menschliche Haltung. Möglich, dass er selber Sohn Theodor die Verse ans Herz gelegt hat: Üb immer Treu und Redlichkeit / Bis an dein kühles Grab . Ob Theodor, als er da vorn am Pult stand und deklamierte, auch seines Vaters Stimme hörte?
    Dichten und Denken waren also gängige Lehr- und Lernpraxis. Der Schüler Theodor sollte die grammatischen Systeme der alten Sprachen und damit seine eigene Muttersprache begreifen. Er übersetzte schriftlich ins Deutsche und musste Wörter und Reime, Sprache und Form für das uralte Vorbild finden. Äsops Fabel »Der Fuchs und die Traube« ist ein Beispiel für Storms Talent als Nach-Dichter. Er trug das Gedicht als Nr. 43 ein in seine handschriftliche Sammlung »Meine Gedichte«. Neben der Muttersprache standen Französisch und Dänisch. Dänischunterricht hatte Storm während der ganzen Gelehrtenschulzeit. Die Landesherrensprache wurde für den späteren Juristen im Herzogtum Schleswig wichtig und unerlässlich. Zu Hause sprachen die Storms Hochdeutsch, nebenbei auch Plattdeutsch, das Vater Storm flott von der Zunge ging, und auch Theodor sprach oft Plattdeutsch mit seinen Freunden. Storm ging mit seinem Schulkameraden Klander zu einer alten Madame, um Französisch sprechen zu lernen. Wenn er gegenüber Paul Heyse einmal äußerte, dass er nur das Hochdeutsche und Plattdeutsche beherrsche, dann war das eine starke Untertreibung.
    Wieweit er das Französische beherrschte, erfährt man aus einem Brief, den er, gerade fünfzehn Jahre alt geworden, im Dezember 1832 an seinen »geschätzten« Vetter Fritz Stuhr (1813–1880) aus Friedrichstadt schrieb. Mit ihm, dem Sohn seiner Tante Lene, Mutter Lucies Schwester, hat Storm sich seit Kinderzeiten gut verstanden, so manchen Streich haben die beiden ausgeheckt und gespielt, Erinnerungen an die gemeinsame Zeit an der Gelehrtenschule verbanden sie. Als Storm den Brief an den vier Jahre älteren Stuhr schrieb, weilte der in Altona, wo er eine Ausbildung zum Handelskaufmann absolvierte.
    Lieber Fritz
    Endlich setze ich mich einmal, um Dir auch einige Nachrichten aus Husum mitzuteilen, und Dir zu sagen, daß ich mich sehr wohl befinde und mit großem Heißhunger der Abendmahlzeit entgegensehe. Fürs erste muß ich Dir sagen, daß Deine Mutter Dich grüßen läßt und daß sie Dir bald schreiben wird. Daß Mutter einige Tage bettlägerig gewesen ist, wirst Du wohl schon wissen, auch ist sie jetzt wieder ziemlich gesund. Wir haben seit ungefähr einem Jahr hier einen neuen Kollaborator an der gelehrten Schule und dieser Kerl nun ist ein ganzes Ideal; er ist in den 20; hat braune struppige Haare, eine blässe Gesichtsfarbe, eine große bläuliche schiefe Nase, kleine Augen und was ihn am Ende ganz vollkommen macht, ist ein entsetzlicher Buckel. Dieser

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