Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
folgende Briefstelle: Eben kommt Tante Do, giebt mir einen Kuß und sagt: »Gröt em veel mal«! Storm und Doris haben also auch Plattdeutsch miteinander gesprochen.
Sie habe ihn wachgerufen , so schreibt er ihr Ende Februar. Er fühle mit Entzücken diese Stärke und Freiheit ihrer Liebe. Lang ist’s her, in der Novelle »Ein grünes Blatt«, als Regine, die ein Stück Doris verkörpert, den Freischärler Gabriel, der ein Stück Storm verkörpert, mit ihrem Mädchentemperament ebenfalls wachruft . Regine ist nämlich die Treiberin in der Liebesgeschichte und Gabriel der Getriebene, bis er das Opfer seiner Leidenschaft und ihres Begehrens wird.
Das Wachrufen ist für Storm ein stets wichtiges Lebenssignal, denn Zögern und Verharren sind ihm eigene Wesenszüge. Auch in seiner Novelle »Drüben am Markt« zeigen sich seine Poesiewerkzeuge des Wartens und der Ruhe: Uhr, Spinnrad, Meerschaumpfeife, Angelrute. Trügerische Ruhe allerdings. Christoph, der Doktor, verfehlt sein Ziel, er findet nicht zu Sophie, seiner Liebe, obwohl er ihr immer wieder begegnet und sich Gelegenheiten für eine Liebeserklärung bieten. Aber das Schicksal führt beide aneinander vorbei. Sie versteht es nicht, ihn wachzurufen , und er ist, wie Reinhard in der Novelle »Immensee«, das Opfer seines Zögerns oder Verharrens und muss mit ansehen, wie sein Freund Eduard, der an Storms Freund Brinkmann erinnert, das glückliche Los zieht und Sophie zur Frau gewinnt.
Wie begann die Liebesgeschichte mit Constanze? Sie setzte sich spontan auf seinen Schoß. Wie begann die Liebesgeschichte mit Doris? Storm schreibt, daß ich damals so verfrüht und gewaltsam meine Hand auf sie gelegt, das war freilich ein Frevel . Diesen Satz muss man im Zusammenhang sehen mit der drei Tage zuvor geschriebenen »großen Beichte«, in der er Brinkmann seinen ehelichen Fehltritt gesteht, das Herz ausschüttet und damit erleichtert. Dass er seine Hand verfrüht und gewaltsam auf Doris gelegt habe, mag aus Storms Sicht richtig empfunden sein, man muss seine Auslegung aber auch verstehen als eine Selbstbezichtigung, das Wachrufen in Rechnung stellen, das Doris, wie in »Ein grünes Blatt« geschildert, damals wie heute raffiniert beherrschte. Zu fragen wäre auch, ob Storms frühe Liebesgeschichte mit Emma Kühl durch ein Wachrufen der Frau ausgelöst wurde, worauf er umgehend in Zögern, Verharren und Schweigen stürzte und später in einem Brief an Constanze mit Selbstbezichtigung und Seelenkater reagierte. Und Bertha von Buchan? Wachrufen konnte und wollte dieses Kind nicht, und Pflegemutter Therese Rowohl achtete darauf, dass sie ihren Liebling nicht aus den Augen verlor. Der hell entflammte Storm rief sich selber wach in seinen leidenschaftlichen Versen an Bertha.
Schließlich spielt das Zögern und Verharren auch in Storms Meisterwerk »Der Schimmelreiter« entscheidend Schicksal. Als eine von Mäusen ausgehöhlte Nahtstelle des alten und neuen Deiches vor den erwarteten Winterstürmen von Grund auf instand gesetzt werden müsste, gibt Hauke Haien den Stimmen des Beschwichtigens nach, lässt sich ins Abwarten und Schweigen drängen und versäumt das Handeln. Er allein hatte die Schwäche des alten Deiches erkannt; er hätte trotz alledem das neue Werk betreiben müssen, so lautet die Selbstbezichtigung. Dann bricht der Deich genau dort, wo sein Versagen, das Mäuseunheil, lauert. Hier liegt das dramatische Scharnier der Novelle, von hier aus entwickelt sie die poetische Kraft für das schicksalhafte Ende des Deichgrafen. Ein Wachrufen hätte Hauke Haien zur Tat schreiten lassen und das Schicksal hätte nicht die Tragödie des Untergangs heraufbeschworen. Aber wer hätte ihn wachrufen sollen? Er allein steht gegen alle anderen, die wie die Stimmen in seinem Innern ihn mit ihrem Zurufen lähmen, er nur allein hätte sich dagegen wehren und sich davon befreien können; aber er tut es nicht und bleibt gefangen.
Wie aus einer solchen Gefangenschaft befreit reagiert Storm auf das Wachrufen durch seine alte Liebe Doris Jensen. Gleich hat er Oberwasser, plant und wird tätig. Für die neue Ehe lässt er sich das Ja-Wort seiner Eltern und Schwiegereltern geben: Mutter und ich begrüßen Deine Doris als eine liebe Tochter und würdige Nachfolgerin unseres unvergeßlichen o! so geliebten Kindes , schreibt der Schwiegervater. Bruder Johannes aus Hademarschen hilft weiter: Ich will Dir etwas sagen: ich hätte das auch getan . Diesen Satz hat Storm sich so eingeprägt, dass er
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