Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
ungewöhnlichen Frau? Freund Pietsch zeichnet die Künstlerin in einem langen, dunklen Kleid und mit vollem dunklen Haar. Schönes Gesicht? Man sieht nicht viel davon, aber ihr Wesen strahlt Anmut aus durch des Zeichners Stift.
Tochter Gertrud hat sich später zu dieser Frau geäußert. Ob darin auch die Meinung ihres Vaters enthalten ist? In einem Fotoalbum steckte neben dem Foto von Turgenjw, der uns mit wunderbar schönen und guten Augen anblickte, auch das Foto der Viardot, einer so häßlichen wie geistvoll blickenden Frau, daß sie uns allein schon um dieser Häßichkeit wegen interessant war.
Mittwoch, den 13. September verlässt Storm Baden-Baden, nicht ohne sich vorher ein großes Lob ersungen zu haben: Ich sang auch eins von den wunderschönen Liedern der Viardot, während sie begleitete, und sie sagte freundlich nickend: »Bravo, Herr Storm!« Diese Streicheleinheit für den Dichter und Sänger aus Husum darf in keiner Storm-Biographie fehlen.
Turgenjew verabschiedet seinen Gast in Baden-Baden: Ich bin zwar nicht Jupiter, aber ich sage doch, so oft du wiederkehrst, sollst du willkommen sein. Auch die Gluthitze lässt Storm hinter sich; er sitzt im Zug nach Frankfurt. Turgenjew ist der Prachtkerl, als den Pietsch ihn geschildert hat: respektvoll und kollegial, freundlich und großzügig. Storm aus Husum an der Nordsee, Turgenjew aus Orjol (Orel) südlich von Moskau, das sieht nach großem Unterschied aus. Tatsächlich ist beider Lebensweg ungleicher nicht zu denken. Familienvater Storm lebt in ständiger Geldnot, Junggeselle Turgenjew schöpft aus dem Vollen, ein Mann von Welt. Und doch ist eine Verwandtschaft da, die der Husumer auf seine Art verkörpert und zu vertreten weiß, und die ihn auf besondere Weise gleichrangig neben den russischen Dichterkollegen stellt: ein ähnlich gefühlter Heimatschmerz, der bei Storm mit Husum verschwimmt und kommt und geht wie Ebbe und Flut. Bei Turgenjew verschwimmt dieser Schmerz in der unerfüllten Liebe, die sich in einem Lied mit seinen Worten, vertont von der Viardot, wunderbarerweise deutlich Gehör verschafft: Das Lied von der triumphierenden Liebe.
Nach Husum zieht es Turgenjew nicht, er will die Nähe seiner geliebten Viardot nicht missen. Nur ab und zu verlässt er sie, um für kurze Zeit auf seinem Gut »Spasskoié« in Russland zu leben. Nordseebäder brauchen Sie wohl gar nicht ?, schreibt Storm als Postscriptum in seinem einzigen erhaltenen Brief. Sieben Briefe Turgenjews sind bekannt, der letzte vom 8. Dezember 1876. Man schickt sich gegenseitig die eigenen Arbeiten, Freundlichkeiten und Höflichkeiten gehen hin und her, Kritik wird ausgespart. Die kommt später über dritte Personen herein. Der Respekt voreinander ist groß und verbindet – mit gehörigem Abstand. Im Glasschrank meines Vaters standen Turgeneffs Werke vollzählig beisammen – und wie wurden sie gelesen! – , schreibt Tochter Gertrud.
Fäden ins Leben spinnen, das ist Storms heimlicher Arbeitsplan: unbekannte geistige Nahrung verzehren, körperliches Gleichgewicht bearbeiten, seelisches Ergehen verfeinern, so ist die Übung auch überschrieben. Im Zug nach Frankfurt kann er Zeit und Bilder von Baden-Baden noch einmal vorbeiziehen lassen. Er unterbricht seine Fahrt in Heidelberg. Das »Erinnerungsweh«, von dem Thomas Mann spricht, lässt ihn hier einkehren. Er trinkt in der Schlossgaststätte einen Schoppen Affentaler und blickt in das schöne Tal, so heißt es in einem Brief an Sohn Ernst. Dann reist er weiter nach Frankfurt; wie schon auf der Hinreise besucht er Tycho Mommsen, bleibt dort über Nacht, aber der alte Freund erübrigt kaum Zeit für ihn.
Storms achtundvierzigster Geburtstag ist der folgende Tag. Ob er das Mommsen verraten hat? In Mainz geht er an Bord eines Dampfschiffes, schließt dort Bekanntschaft mit einem jung verheirateten Ehepaar aus Dortmund, das von der Hochzeitsreise zurückkehrt. In Köln übernachtet man im »Hotel du Nord«, dicht am Dome, brillant, aber teuer . Am nächsten Morgen gedenkt er des eigenen Hochzeitstages vor neunzehn Jahren und angesichts des jungen Paares ist ihm im geheimen Innern recht todesweh zu Mute. Eau de Cologne und möglichst viele Trauben kauft er ein. Dem jungen Brautpaar dichtet er ein paar Verse für das Ankunftstelegramm, das sie nach Hause schicken wollen; es wird mit großer Heiterkeit abgesandt.
Nun fährt er alleine weiter nach Duisburg, um seinen alten Freund aus
der Gelehrtenschule-Zeit, Peter Ohlhues, zu besuchen;
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