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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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annehmen.
    Storm fragt in seinem Brief aus der Distanz von achtzehn Jahren: Habt Ihr nie eine Ahnung davon gehabt? Damals war Storms Geliebte zwanzig Jahre alt, jetzt ist sie achtunddreißig. Als wenn Storm sich für die inzwischen älter gewordene Frau entschuldigen müsste, entfährt ihm nicht viel mehr als eine Doris herabsetzende Bemerkung wie vom Stammtisch: Es gibt wohl nichts Verblühteres als eine verblühte Blondine, ihr werdet sie gewiß sehr unschön finden . Was Brinkmann antwortet, ist nicht bekannt; dass er geantwortet hat, steht außer Frage. Der letzte von ihm überlieferte Brief an Storm ist im Januar 1866 geschrieben worden; alle anderen danach müssen als verloren gelten. Wo sind sie geblieben?
    Die verblühte Blondine meldet Storm drei Wochen später auch in einem Brief an Freund Pietsch; das ist Storm also nicht versehentlich herausgerutscht. Auch Pietsch beichtet er seine Jugend-Ehesünde, und: Sie sei arm wie eine Kirchenmaus. Wer nähme sie wohl noch an sein Herz, wenn ich’s nicht täte, schreibt Storm, und damit hat er Recht. Tatsächlich tut er auch ein gutes Werk; Mitleid ist eine Storm-Stärke, es ist ferner ein Akt der Wiedergutmachung, selbst dann, wenn in ihm die ganze törichte Leidenschaft der alten Zeit wieder erwacht ist. Allein auf sich gestellt, hätte Doris das damals typische Leben der ledigen, mittel- und kinderlosen Frau führen müssen, die von Verwandten zu Verwandten pilgert, von Freunden zu Freunden, um Geldnot, Hunger und Winter zu überstehen.
    Letzte Maßnahme, um der Familie vor der Eheschließung mit Doris Jensen noch einen Blick zu gewähren in den aktuellen Stand der Dinge, ist ein Besuch bei einem bislang unbekannten Husumer Photographen: ein Foto, das Storm mit seinen sechs Kindern zeigt, die Jüngste fehlt, sie war gerade ein Jahr alt geworden , mit Gertrud wagten wir es noch nicht, schreibt Storm an seine Schwiegereltern. Wenn heute schon der Termin beim Photographen zeitraubend und besonders für Kinder nervig ist, dann kann man sich eine solche Sitzung damals – Vater und sechs Kinder bitte recht freundlich während einer langen Belichtungszeit – gut vorstellen. Lite (Lisbeth), der Ältesten, sitzt noch ein Kaninchen im Schoß. Hat sie es mitgebracht oder hat der Photograph das Tier in seinem Fundus? Hand aufs Herz: Stehen nicht die drei Söhne Hans, Ernst und Karl zur Schau wie auf einer Theaterbühne, während die drei Töchter Lisbeth, Lucie und Elsabe von alledem nichts wissen wollen? Und Storm? Er ist halb mit seinem Gesicht hinter Tochter Lucie verschwunden, knapp neunundvierzig Jahre alt. Kein alter Mann? So sieht er jedenfalls nicht aus. Alles in meiner Hand, so könnte die Botschaft aus seinen Augen heißen. Zähigkeit, die er sich immer wieder selbst bescheinigte, sitzt hinter der hohen Stirn. Entschlossen und offen, wenn auch halb verdeckt, blickt dieser Mann in die Zukunft, als könne ihn nichts umwerfen.
    Am 13. Juni heiratet er Doris in Hattstedt. Nach einem Frühstück in der Hohlen Gasse ist die Hochzeitsgesellschaft mit Mutter Lucie, den vier ältesten Kindern und mit Constanzes Bruder Hermann aus Husum abgefahren. Hermann und Sohn Hans sind Trauzeugen in einer »Hauscopulation«, wie sie schon in Segeberg praktiziert wurde. Dafür war eine Genehmigung erforderlich, die der Landrat Graf Ludwig Reventlow am 6. Juni 1866 erteilt hatte. Pastor Herr aus Schobüll, ein alter Schulkamerad, traut das Paar in Vertretung für den Hattstedter Kollegen im Pastorat. Storm meidet also wieder die Kirche, die mit ihrem dicken Turm wie eine feste Burg auf der Hattstedter Geesthöhe steht und zu den schönsten in der Gegend zählt. Nachdem der Act still und einfach sogleich vollzogen war, tranken wir eine Tasse Thee, spatzierten im Pfarrgarten umher, der voll von Kindererinnerungen für mich ist , schreibt Storm an Brinkmann. Wie oft ist er über die Heide gegangen zuseinem Freund Ohlhues, dessen früh verstorbener Vater hier Gemeindepastor war?
    Das frisch gebackene Ehepaar steigt noch am Hochzeitstag in den Zug und begibt sich auf Hochzeitsreise nach Hamburg. Dort verbringen Herr und Frau Storm eine Woche im »Hotel Stadt Kiel« am Gänsemarkt, wo Storm bei den Wirtsleuten Peplo ein alter Bekannter ist. Am 22. Juni kehrt das Paar nach Hause zurück; dort ist noch immer Miss Mary Pyle. Nach England will sie nicht zurück, obwohl dort ihre Geschwister leben. Miß Marei wird eine Stelle bei dem Redacteur der Hamb. Reform Richter [antreten] und möchte

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