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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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»Rachenkatarrh« oder »Halskatarrh« und an Freund Pietsch in Berlin so: Karl, der seit dem Frühjahr am Halse leidend auch zu Hause gewesen ist, wird voraussichtlich Anfang Oktober nach Berlin gehen . Karl, der Student des Gesanges, kann seine beschädigte Stimme nicht schulen, sondern muss bei Professor Stockhausen audiendo studieren, d. h. er darf nur zuhörend lernen. Stockhausen verlangt von seinem Schüler ein ärztliches Attest, untersucht ihn auch selber. Er darf bei seiner Kur (örtliches Pinseln u. kalte Waschungen) mäßig singen, so geht die Nachricht an Wilhelm Petersen nach Schleswig.

»Ein stiller Musikant«
    Karl, das ist der »stille Musikant«. Er ist auch aus den heiligsten Tiefen meiner Seele. Der stille Musikant ist mein heißgeliebter Junge, den ich mit Traumesaugen in seiner Zukunft angeschaut, schreibt Storm an Heyse. Ein Stück reinen Wunschdenkens. Erstaunlich hellsichtig und mehrdeutig wählt Storm den Titel seiner Novelle, die er innerhalb von zwei Monaten im Winter 1874/75 fertigstellt. Wir erinnern uns: Storm hat Karl in Leipzig als Bummelanten erwischt, gerade hat er ihm letzten Schliff und Benimm einzuhämmern versucht, er erlebt jetzt sein Schweigen, das ihm qualvolle Seelenfolter bereitet. Der Sohn sitzt währenddessen in Einsamkeit und schwerkrank, noch aber hat er seine Stimme.
    Storms unmittelbarer Anlass, die Novelle zu schreiben, ist ein nicht erhaltener Verzweiflungsbrief von Karl; der beklagt seine Lernschwäche und sein mangelndes pianistisches Talent und hegt traurige Zweifel über seine Zukunft . Storm antwortet Anfang Dezember 1874: Ich dachte es wohl, daß irgend eine Mutlosigkeit an Deinem ungewöhnlichen Schweigen schuld sei, und ich begreife es und fühle es tief mit Dir. Denn jener Mangel an Konzentrationsvermögen ist ja ein Erbteil von mir und hat auch mich im Leben oft gehindert und gedrückt. Aber man muß mit solchen Lücken seiner Persönlichkeit irgendwie fertig zu werden suchen; bleibe Du nur treu und fleißig, und habe vor Dir und mir das Bewußtsein, nach Deinen Kräften das Äußerste getan zu haben.
    Es ist die Lebensgeschichte des Musikmeisters Christian Valentin, dreißig Seiten, sie zählt damit zu den kürzeren Novellen des Dichters. Storm, Musiker wie Karl und dessen Alter Ego Christian, folgt wieder der bewährten Technik: Ein Ich-Erzähler stellt den Rahmen her und schildert seine Bekanntschaft mit dem Musikmeister. Diesen wiederum setzt Storm auch als Erzähler-Hilfskraft ein, lässt ihn die eigene Lebensgeschichte schildern und damit die erzählerische Hauptlast dieser Novelle tragen. Der Vater des Musikmeisters, den wir durch Christians Erzählung kennen lernen, ist die dritte wichtige Figur.
    Gleich am Anfang stellt der Dichter mit Dämmerstunde und Ofenfeuer das ihm unentbehrliche Behaglichkeitsidyll her, dann lässt er das Novellengeschehen um die drei Männer kreisen. In jedem von ihnen entdecken wir etwas »Storm«. Im Erzähler steckt der Schöngeist, der Bücher- und Musikfreund, der Genießer von Herbstabend und Behaglichkeit; im Vater entdecken wir den Advokaten und Musikbesessenen, den Ungeduldigen und Jähzornigen, und bei Christian, dem Sohn, finden wir ebenfalls den Musiker, auch den Bildernarr mit seiner Sammelleidenschaft für den Maler und Kupferstecher Daniel Chodowiecki (1726–1801), den wiederum der Erzähler schätzt und sammelt. So sind die drei Männer dicht ineinander verwoben mit ein- und demselben starken, insbesondere von Musik durchzogenen Lebensband. Schwer also wiegt das Gewicht des Autors in dieser Novelle.
    Storm hätte sich indessen von der auf ihm liegenden Sorge um Karl befreien müssen, um aus dem greifbaren Stoff einen Funken Kunst zu schlagen. Zu sehr hängt er fest in diesem Stück aus dem tragischen Leben seines dritten Sohnes, schwimmt in den eigenen Wunschbildern und selbstverliebten Träumereien und mischt dieser Geschichte Zutaten bei, die sie am Ende als scheinfrommes Rührstück stehen lassen.
    Christian, der Musikmeister, empfindet seine mangelhafte Begabung als Schuld und büßt sie ab mit Liebesunfähigkeit und einem kläglichen Leben, in dem er sich auch noch beglückt und begünstigt wähnt. Dieser Mann fügt sich auf wenig glaubhafte Weise seinem Schicksal. Sein Leben mag für ihn schmerzlich sein, für Karl aber – mein heißgeliebter Junge – , den Storm als Vorbild gebraucht, muss dieses Vorgeführt-Werden tief verletzend und erniedrigend sein.
    Einerseits charakterisiert Storm den Vater

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