Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
täuscht sich Storm, denn Ernst sitzt das Geld unverändert locker in der Tasche, er bechert nach wie vor gern das von Storm gehasste Bier und glänzt auf dem glatten Parkett der Abendgesellschaften als »Courmacher« nicht so schön und bedeutend, wie Storm das im Auge haben möchte. Der junge Referendar holt sich bei den jungen Damen Körbe, also Dämpfer für das ohnehin strapazierte Selbstbewusstsein eines Storm-Sohnes und angehenden Juristen. Seiner Schwester Lisbeth enthüllt er in einem Brief, er gelte als schrullenhafter Melancholikus . Auch wenn er hier seinen Sprachwitz hervorkehren wollte und dabei mit sich selber liebäugelte, so bleibt doch der Eindruck, dass der junge Mann Schwierigkeiten hat, bei den jungen Damen anzukommen. Vermutlich geht ihnen der »Schnacker« auf die Nerven.
Als Erziehungsgehilfe seines Vaters aber bewährt sich Ernst wieder einmal. An Karl geht die brüderliche Botschaft, er möge sein Schweigen brechen und sich klarer zu seiner Krankheit äußern. Mit demselben Brief gehen auch Storms Mahnworte nach Stuttgart, die bezeichnend sind. Bist Du nicht ganz sicher, daß Du in diesem Quartal Deine Gesangs- und Gesangsunterrichtsausbildung (dies vorzüglich) dort fortsetzen kannst, so sollst Du sofort nach Hause kommen . Worte, die Studium und Berufszukunft angehen, unterstreicht Storm einfach oder doppelt; die Krankheit erwähnt er nur nebenbei und abwiegelnd. Kennzeichnend auch der Schluss: Nun sei mein guter Junge, erweise mir ein wenig Liebe u schreibe mir sofort .
Acht Tage später geht Storm dann doch auf Karls Krankheit ein, wagt aber ebenso wenig, die »Syphilis« beim Namen zu nennen. Albrecht Dürer, der selber an der »Lustseuche« (Lues Venerea) erkrankt war, wird ein Holzschnitt von 1496 zugeschrieben, auf dem ein Syphilis-Kranker mit seinem entstellenden Hautausschlag dargestellt ist. Noch spricht man nicht von »Syphilis«; der den Holzschnitt begleitende lateinisch geschriebene Text des Arztes Dietrich Ulsen bezeichnet die Krankheit als »scabius« (Räude) oder »lichnica« (Flechten). Erst 1530 benennt der Veroneser Arzt und Philosoph Girolamo Fracastoro die Krankheit zum ersten Mal in seinem berühmten Gedicht »Syphilis, sive morbus gallicus« (Syphilus oder die französische Krankheit) nach dem Hirten Syphilus, der Apollo so erzürnte, dass dieser ihn mit der Krankheit bestrafte.
Der hochgebildete Storm wird das alles gewusst haben. Er schreibt an Karl: Ich möchte glauben, daß die Angst vor jener Krankheit, die ja selbst eine Krankheit mit eigenem Namen ist, Dich körperlich herunterbringt. Schließlich nimmt er doch das Unwort in die Feder, hält aber die Krankheit selber von seinem Sohn fern, schreibt von dessen Verkehr mit dem syphilitischen Collegen . Hatte Karl homosexuelle Beziehungen in Leipzig?
Karl möge doch alles aufschreiben, was er aus der Leipziger Zeit erinnere und damit seinen Arzt genau unterrichten. Falls eine Kur notwendig sei, solle diese sofort gemacht werden . Sich selber beruhigt Storm, Karl schreibt er beschwichtigend: Deine Gesundheit wird sich unter Onkel Aemil gewiß wieder herstellen; er will nichts davon wissen, daß irgend etwas Bedenkliches von Geschlechtskrankheit in Dir stecke . Vierzehn Tage später schreibt er noch einmal, sich selbst und den kranken Sohn aufmunternd: Wir wollen dich schon wieder flott machen . Dann kommt Karl nach Hause.
Stellen Sie sich vor, wie schwierig es gewesen sein muss, den ganzen Vorgang streng geheim zu halten! Nackt, unter einer Decke auf einem Rohrstuhl sitzend, mußte Karl die Dünste von erhitztem Quecksilberchlorid einatmen. Derselben Behandlung hatten sich seine beiden Onkel sowie sein Bruder Hans unterziehen müssen. Man gab vor, Karl werde wegen einer chronischen Kehlkopfentzündung behandelt .
Quecksilberchlorid ist hochgiftig, es wurde nicht nur eingeatmet, sondern in destilliertem Wasser oder Alkohol gelöst und auf die befallenen Hautpartien gestrichen. Wegen der stark antibakteriellen Wirkung vertrieb es den Ausschlag, die Syphilis aber blieb, kehrte in großen und kleinen Abständen immer wieder, zerstörte nach und nach den Körper, zuletzt das zentrale Nervensystem. »Rückenmarksleiden« war dafür das Stichwort im 19. Jahrhundert, ein Horrorwort, das man gerade noch in den Mund nahm, um mit dem ihm anhaftenden Charakter des Rätselhaften und des Raunens das Spätstadium dieser Krankheit zu umschreiben.
Karls Syphilis-Erkrankung bezeichnet Storm seinen Freunden als
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