Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
als Zornickel und Ungeduldigen und gibt damit viel von sich preis, andererseits erinnert sich der Sohn mit Dankbarkeit und Verehrung, Respekt und Hochachtung. Da setzt der Musikmeister seinem Vater ein kleines Denkmal: Mir fehlt nicht das Gedächtnis für seine liebevollen Mühen (…) Ein Mann auf den Punkt, ein angesehener, viel beschäftigter Advokat. O, mein guter Vater, ich werde das nie vergessen .
Armes Würstchen Christian, der die eigene Dummheit und Untüchtigkeit beklagen muss, ein Mensch, aus dem nicht viel geworden ist . So viel Selbstbezichtigung tut weh: mein armer, schwacher Kopf, den ich schon als Knabe zwischen meinen Schultern trug. Er ruft seine verstorbene Mutter wie die Mutter Gottes an – Storm beschwört damit Constanzes Bild –, hält es dem Leser in seinem kitschigen Rahmen hin, und Christian lässt er in kindischem Unverstand sagen: Ach, hilf mir, Mutter! O meine liebe Mutter, hilf mir! .
Die drei Männer, die das Novellengeschehen kreisen lassen und den Erzählstab einander übergeben, sorgen für Ruhe und Ordnung. Keine Beunruhigung und Erregung, kein Aufbegehren oder gar Empörung, die der Leser erwarten oder erhoffen könnte, Friedhofsruhe liegt darüber wie eine fest deckende Schicht, die von Storm in die Novelle gegossen wurde.
Gleichwohl hat die Geschichte vom stillen Musikanten ihre Vorzüge, auch sie glänzt mit Stormscher Erzählkunst. Wieder greift er zu E.T.A. Hoffmann; mit der wunderlichen Gestalt der Katerina, einer alten Sängerin, kommt eine bizarre Note in die Novelle; von ihr ist immer mal wieder die Rede, und der Leser hat mit ihr auch deswegen E.T.A. Hoffmann im Sinn, weil der »Kater (Murr)« in der Katerina steckt.
Die Schilderung der musikalischen Partien ist funkelnde Prosa. Storm schöpft aus seinem musikalischen Wissen, aus eigener Anschauung musikalischer Aufführungsarbeit und kann beides in Sprache verwandeln, wie diese kleine Begebenheit: Der Erzähler belauscht hinter geschlossener Wohnungstür den Klavierunterricht des Musikmeisters, und während er der Unterhaltung von Lehrer und Schülerin folgt, schildert er, was sich aus dem beanstandeten staccato in Schubert‘s moments musicals [sic] entwickelt hat: dann folgte ein portamento, ich sah es ordentlich, wie die jungen Finger den Ton von einer Taste zu der anderen trugen .
Auch der Bericht vom Konzertabend, bei dem der Musikmeister seine Mozartsche Phantasie-Sonate vorträgt und als Pianist scheitert, ist eine Textpassage von höchster psychologischer Raffinesse. Hier kann Storm bedenkenlos aus dem Vollen der eigenen Erfahrung schöpfen. Konzertatmosphäre ist ihm bekannt, auch ein Konzertsaal, der so gut besetzt ist, daß selbst einzelne Damen nicht zum Sitzen gelangen konnten . Spannend, wie er das Scheitern aus der Sicht und dem Empfinden des Klavier spielenden Musikmeisters beschreibt, wie dessen innere Sammlung von Stimmen und Geräuschen aus dem Publikum angegriffen wird, wie die eigene Phantasie sich an der Zerstörung der Konzentration beteiligt und ihn als Opfer zu sich holt. Wie der dicke Schulrektor dem Musikmeister während seines Vortrags auf die Pelle rückt und ihn verwirrt, ist ein Paradestück Stormscher Kunst: Er konnte allerlei böse Absichten hegen : er wollte vielleicht die Lichter putzen, wobei die große messingene Lichtschere auf die Tasten fallen konnte, oder gar mir die Notenblätter umwenden, was ich durchaus von keinem Anderen leiden konnte! Ich eilte mich, die zweite Blattseite herunterzuspielen, damit nur seine dicke Hand mir nicht zu früh in die Noten griffe .
An dieser Prosa hat vermutlich auch Franz Kafka seinen Gefallen gefunden, sie mag ihn angeregt haben; er las Storm. In Prag war der Dichter aus Husum bekannt: Gestern kam ein Schreiben des Vorstandes der Lese und Redehalle der deutschen Studenten in Prag, die mich bitten, 1 Exl. der Gesamtausgabe zu stiften. Das müssen die Jungens ja denn auch haben . 1882 erschienen in Prag »Kritische Studien über berühmte Persönlichkeiten« von Ida Klein, sie setzte sich ausführlich mit Storms Werk auseinander, lobte sehr und tadelte auch streng.
Innigkeit und Wärme von der ersten bis zur letzten Zeile wurden dieser Novelle nachgerühmt. Für die musikalischen Partien, die vom Grotesken und von meisterhafter seelenkundlicher Wissenschaft zeugen, trifft das gewiss nicht zu; im Gegenteil, sie beben von der Gnadenlosigkeit und Brutalität, die in der Schilderung des Schicksals von Christian Valentin durchscheinen, darüber
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