Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
der damaligen Johannisstraße, heute Dr.-Julius-Leber-Straße. Der Haupteingang lag unter einem hohen, vierstufigen Giebel und zahlreichen Fenstern an der Schmalseite. Fünf Steinstufen führten durch einen kurz hervorspringenden Rundbogen ins Innere des Nöltingschen Stadtpalais. Milde hatte Räume dieses Hauses mit Fresken ausgeschmückt, seine Motive wählte er aus der römischen Antike; es gab ein so genanntes »Milde-Zimmer«, das er 1836 gestaltet hat. Davon ist nichts geblieben; Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Haus abgerissen.
Von Milde stammt auch eine Zeichnung des Nöltingschen Sommerhauses in Krempelsdorf: offene Veranda, Park mit Seeufer, See mit Bootssteg und Boot, Lusthaus mit offener Terrasse direkt am See. Geibel erinnert sich an den schilfumkränzten Teich mit darüber hängender Weinlaube und nennt diesen Ort Kleinaranjuez. Für Storm war das eine Idylle, die ihm schon einen Vorgeschmack auf »Immensee« gab.
Stadthaus in Lübeck und Sommerhaus in der Nähe bildeten Rahmen und Bühne für die Einladungen der Konsulin. Diese Abende mit Musik und Dichterlesung, an denen Storm teilnahm, hat Thomas Mann im Blick gehabt und romanhaft in die »Buddenbrooks« verlegt.
Henriette Nölting war eine leidenschaftliche Kunstliebhaberin, sie soll gut und gern Klavier gespielt haben, Beethoven vor allem , berichtet Gertrud Storm. Sie führte ein offenes, gastfreundliches Haus, und ihr Gatte, der tüchtige Geschäftsmann, war großzügig und ließ sie schalten und walten. In ihrem Salon fand sich Lübecks erste Gesellschaft; neueste Nachrichten aus Politik und Kultur wurden verbreitet und diskutiert. Der berühmte Pianist Alexander Dreyschock konzertierte in Lübeck; ich hörte und staunte ihn an bei Nöltings wie im Konzert, schreibt Rochus von Liliencron in seinen Erinnerungen. Bei den Nöltings fühlten sich die Gäste am »Puls der Zeit«.
Auch Storm ist hier Gast. Die Konsulin spielt Klavier, Storm singt mit seinem Tenor, Geibel mit seinem Bariton. Die Gäste konnten einen Wettstreit der Dichter erleben: Diejenigen, die sich zum Gedichtvortrag berufen fühlten, trugen ihre Gedichte vor, schreibt Gertrud Storm. Da erhob sich langsam mit einem Räuspern und unter dem allgemeinen, »Ah!«, Herr Jean Jacques Hoffstede , lautet die Fortsetzung in den »Buddenbrooks«. Die Frau des Hauses Nölting horcht still und gab dann ihr ungeschminktes Urteil über das Gehörte ab , schreibt Gertrud Storm. Gegen Geibels Vortrag kann Storm in der Kritik der Konsulin nicht bestehen. Geibel war Henriette Nöltings erklärter Liebling. In Lübeck waren seine Auftritte für ihn »Heimspiele«.
Dr. Magister Antonio Wanst
Es kam zu uns viel junges Volk , schreibt Henriette Nölting in ihren handschriftlichen Aufzeichnungen, unter anderem Rochus von Liliencron, hier Primaner auf der hohen Schule, Matthias Claudius (der Sohn des Senators Claudius), auch Emanuels Freund Röse, hoch begabt, aber leider charakterlos …
Ferdinand Röse (1815–1859) spielt in Storms Leben eine herausragende Rolle. Mit Röse verbindet Storm mehr als mit Geibel, mit dem Katharineum, mit seinen Lübecker Lehrern und mit Frau Nöltings Salon. Von Storm selber wissen wir nur wenig über die Lübecker Zeit. Briefe, die er von Lübeck nach Hause schrieb, sind offenbar verloren. Wenn Storm in seinen Erinnerungen an Ferdinand Röse vom alten heiligen Lübeck spricht, dann bezeichnet er damit auch die Erfahrung, die ihm Röse vermittelte. Storm hat sie rückblickend als entscheidende Wende seines Lebens, das er immer als Dichter-Leben begriff, gewürdigt. Der Anstoß für die Wende kam von Röse. Storm hat das nie vergessen und sich an den alten Freund, verkrachte Existenz, verkommenes Genie und schwarzes Schaf der Götter, stets dankbar erinnert. In seiner autobiographischen Schrift »Ferdinand Röse« von 1887 hat er dem alten Freund ein Denkmal gesetzt, ganz so wie er 1870 der Geschichtenerzählerin seiner Kinderjahre das Gedenkblatt »Lena Wies« widmete.
Röse, Sohn eines vermögenden Lübecker Kornkaufmanns, war zwei Jahre älter als Storm. Er hatte das Katharineum vorzeitig verlassen, um eine Buchhändlerlehre zu beginnen, kehrte aber wieder zur Schule zurück, und dort lernte Storm ihn kennen. Der Mann war, so Storm, schon rein äußer-
lich nicht eben einnehmend . Dass man ihn »Wanst« oder »Dr. Magister Antonio Wanst« nannte, spricht Bände. Ursache dafür war vielleicht der etwas abgetragene schwarze Rock mit zwei Reihen Knöpfen, der um
Weitere Kostenlose Bücher