Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Leidenschaft, die poetische Dünung seiner Sprache erfassen Storm und holen ihn ins Schiff. Eichendorffs Heiterkeit und Ironie, seine Tausendmal-Ruhe des Brunnenrauschens, der Zauber seiner genauen poetischen Bilder, ziehende Komödianten, die Deutschland-Sehnsucht in Italien – O Täler weit, o Höhen, / O schöner, grüner Wald –, Eichendorff, kein Heimatdichter, sondern Dichter des Heimwehs, das ist für den jungen Storm gewesen wie die erste große Liebe, unvergesslich und immer von überwältigender Erinnerungskraft. Auch Storm wird, was Eichendorff schon ist: Dichter des Heimwehs: Doch hängt mein ganzes Herz an dir, / Du graue Stadt am Meer.
Aber diese große Liebe läuft nicht einem Zeitgeist hinterher, denn Heine, Eichendorff und Mörike sind Vorreiter und Moderne, die erst allmählich zu festen Größen im Kanon deutscher Dichtung werden. Storms Klarsicht, sein instinktiv richtiges literarisches Urteil passen wie eine Seite der Münze zur anderen seines literarisch-poetischen Empfindens. Aus seinem Scharfblick für poetische Qualität entwickelt er ein präzises literarisches Urteil. Im Briefwechsel mit seinen Kollegen-Freunden (Ada Christen, Theodor Fontane, Klaus Groth, Paul Heyse, Gottfried Keller, Theodor Mommsen, Ludwig Pietsch, Hermione von Preuschen, Iwan Turgenjew), mit den ihm nahestehenden Literaturkritikern und Wissenschaftlern (Emil Kuh, Erich Schmidt), mit bewunderten Vorbildern (Eduard Mörike) und Freunden (Hartmuth Brinkmann, Wilhelm Petersen), mit seinen Verlegern (Paetel, Westermann) legt er davon eindrucksvoll Zeugnis ab. Storms Beitrag zu einer Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist noch ein weites Feld, das auf Bestellung und Ernte wartet.
Es muss noch dunkel sein, als Storm das Zimmer seines Freundes verlässt und sich auf den Heimweg begibt. Das erste Stockwerk, die vielen Türen an der Galerie, den langen Flur beschreibt Storm auch in seiner Novelle »John Riew« (1885). Das alles hatte ein gar stattliches Aussehen , sagt der Erzähler, ein Seemann, der seinen alten Reeder in Lübeck, in seinem großen Hause in der »Wahmstraße« besucht. Das könnte das Haus des Kornmaklers Georg Friedrich Röse sein, wo Storm ein und ausging. Aber die Wahmstraße bietet ihren Hausbewohnern keinen Blick auf die Trave, wie Storm ihn vom Rösehaus kennt. Das Rösehaus stand auch nicht in der Wahmstraße, sondern auf der anderen, westlichen Seite der Stadtinsel im Häuserblock zwischen Mengstraße und Alfstraße. Ob Storm auch Vater Röse zum Vorbild des alten Reeders Richardi nimmt, den er als verständnisvollen, sympathischen alten Mann schildert?
Vater Röse verfolgte den Lebensweg seines Sohnes mit Sorge, Gereiztheit und zunehmend zögernder Hilfsbereitschaft; denn der Junior stellte den Senior auf immer härtere Geduldsproben. Nachdem er 1836 sein Elternhaus verlassen hatte, um in Berlin Philosophie, Kunstgeschichte und Archäologie zu studieren, begann für ihn ein Leben auf Pump. Mal schickt der Vater Geld, mal lässt er seinen Sohn schmoren. Röse zieht nach Paris und Basel, München und Stuttgart, treibt Studien und schreibt an seinem philosophischen Werk. Krankheit wirft ihn immer wieder nieder. Er träumt und phantasiert von einem Leben als Dichter und Privatgelehrter.
An den ersten Satz des Röse-Märchens »Das Sonnenkind« erinnert sich Theodor Storm: Hans Fideldum, der lustige Musikant, ging durch ein Seitental des Böhmerwaldes rüstig vorwärts. Das klingt wie eine schlechte Nachahmung des Dichters Eichendorff, der seine Romane und Novellen gern mit Landschaft und Straße, Reise und Bewegung anfangen lässt: Der Abend funkelte über die Felder, eine Reisekutsche fuhr rasch die glänzende Straße hinab (Die Glücksritter).
In Storms »Fiedel-Liedern« aus dem »Liederbuch dreier Freunde« (1843) klingen Röse und Eichendorff an. Die Fiedellieder sind so etwas wie eine Hommage an den alten Freund und an den verehrten Dichter, ein »Taugenichts-Zyklus« von Aufbruch und Wanderschaft, von Musik und Liebe.
Mir aber gefällt doch nichts so sehr / Als das deutsche Waldesrauschen – diese Eichendorff-Verse lässt Storm später noch einmal in den »Neuen Fiedel-Liedern« (Juli 1871) aufleben. Nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges (Friede zu Frankfurt, 10. Mai 1871), dichtet er die letzte Strophe im letzten und zehnten Gedicht so: Herr Gott, die Saaten segne / Mit deiner reichen Hand / Und gib uns Frieden, Frieden / Im lieben deutschen Land. Dass Storm, der mit dem
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