Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
die mittelgroße Gestalt schlotterte . Nichts Jugendliches sei an ihm gewesen, sein Antlitz war gelblich , er hatte dürftiges Haar , sogar seine Sprache war ältlich und statt der Zähne hatte er nur zwei Reihen schwärzlicher Zahnbrocken aufzuweisen .
Was Storm aber an ihm gefiel und zu ihm aufschauen ließ, waren nicht nur seine freundlichen, mitredenden Augen , sondern seine überragende Intelligenz, seine Belesenheit und Bildung, vor allem aber seine Kenntnisse und Begeisterung für die neue deutsche Literatur, von der Storm in Husum nicht viel erfahren hatte. Storm war magisch angezogen vom klugen Kopf Röse, verzaubert von dessen geistig-musischer Welt, die nun auch seine Welt werden sollte. Röse schrieb selber Gedichte, auch er ein rückhaltloser Bewunderer von Geibels Talent der schönen Formgebung , das ihm, Röse, fehle. Wie ehrfurchtsvoll sein Umgang mit Freund Geibel war, beschreibt Storm: Einmal trafen wir diesen in seinem Zimmer ein Gedicht niederschreibend; »scht!« sagte Röse und hielt mich an der Tür zurück, und wir warteten ruhig, bis die heilige Handlung vollendet war .
Von Röse will Storm gelernt haben, Kritik ertragen zu können und sie an mir selbst zu üben . Großspurig und heftig nahm der Storm ins Gebet: Du bist geistig tot . Wer so einen hässlichen Rüffel unverletzt übersteht, der muss allerdings geistig tot sein. Storms Gedichte kritisierte der zwei Jahre ältere Schulfreund mit Horaz: Denique sit, quid sit, simplex dumtaxat et unum – Was du schließlich auch willst, es sei kurz und einfach [Ars Poetica, Vers 23] – schrieb er als Todesurteil unter meine ihm damals vorgelegten Gedichte, so Storm später in einem Brief an den Gymnasiallehrer Gustav Hoerter. Die Empfehlung des römischen Dichters übernahm Storm später fast wörtlich: Wer Meister des Ausdrucks ist, schreibt kurz und einfach, notierte er in einem undatierten und nicht abgeschickten Brief an Helene Clark, seine englische »Immensee«-Übersetzerin.
Kritik vertragen und sich selber kritisieren? Storm, Meister der Selbsttäuschung, mag sich das zugetraut haben, als er die Röse-Erinnerungen im Herbst 1885 niederschrieb. Tatsache ist, dass er empfindlich bis heftig reagierte, wenn er mit seinen Werken Kritik erntete. Für einen Künstler ist das normal.
Bei Röse erlebt der empfindsame Storm das Wunder, ernst genommen zu werden und in seiner Würde geachtet. So vertraut er sich ihm an, geht gebannt und begeistert mit, sperrt die Ohren auf, lauscht und staunt. Es ist, als wenn er hier in Lübeck mit seinem eigenen Blut unterschreibt: den lebenslangen Pakt mit der Poesie.
Die Eltern Röse wohnten in einem großen Haus an der Trave. Vater Röse ist mir damals nur schweigend vorbeigegangen , und Mutter Röse war eine stets kränkelnde, stubenhütende katholische Frau . Storm gelangt über eine gerade Treppe zu einem großen fliesenbelegten, zwei Stockwerke hohen dämmerigen Flur; überall führten Türen zu den Wohnräumen. Röses Zimmer lag hinter der Haupttreppe nach der Trave hinaus . Wenn Storm geklopft hat und das »Herein« hört, dann betritt er das Zimmer des Freundes stets mit dem Gefühl […], ich komme als ein Jüngerer und Werdender zu einem wesentlich schon Gewordenen, wenn auch zu einem freundlich mir Gesinnten . Nun also sitzen Schüler und Meister beisammen.
Storm erinnert sich an breite Fensterbänke, an ein Zimmer ohne Sofa, das ihm aber das schönste und wichtigste im Hause wurde. Hier, so Storms Erinnerung, las Röse ihm an einem unvergesslichen Spätherbstabend aus Heines »Buch der Lieder« (1827) vor, während wir am warmen Ofen saßen und der Wind durch die Schiffstaue pfiff . Storm will sich noch ein halbes Jahrhundert später genau an die Gedichte erinnern, die Röse ihm vorlas. Es wurde eine einzige Lesenacht, die bis in den frühen Morgen dauerte und mit den Heine-Versen endete: Das Schiff war nicht mehr sichtbar, es dunkelte gar zu sehr.
Diese Nacht der Heine-Lieder – Regie Röse, Vortrag Röse – trifft Storm ins Mark. Der bislang suchende und probierende junge Dichter hatte gefunden, was er suchte. Er fand Heine, folgen sollten noch Eichendorff mit seinem Roman »Dichter und ihre Gesellen« (1834) und Goethe, dessen »Faust« er ebenfalls durch Röse kennen lernte. Später kam noch Mörike hinzu.
Zauberworte moderner Lyrik und Prosa, insbesondere die von Heine
und Eichendorff, hat er zum ersten Mal im Ohr, und sie finden in ihm ihr Echo. Heines auf- und abgeklärte
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