Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Buchan und zu Constanze, später zu seiner zweiten Frau Doris und das Verhältnis zu seinen Kindern erzählen von eigenen Problemen. Reaktive Impulsivität, extreme Stimmungsschwankungen, explosives und hitziges Gemüt und geringe Stresstoleranz werden überlagert von übersteigertem Kommunikationsbedürfnis, von seiner Hypochondernatur, seiner anhaltenden Ängstlichkeit und Angst. Sein Körper reagiert: brennendste Hitze auf Backenknochen und Schläfen, Hitze im Gesicht, kalte Hände und Füße, Husten und Aufgeben [Erbrechen] , gereizter Magen, Herzklopfen, Ruhelosigkeit und Erschöpfung – und immer wieder eine rote, braune oder blaue geschwollene Nase.
Den Zusammenhang zwischen seelischem und körperlichem Leiden zeigen unübersehbar die Tage um Constanzes einundzwanzigsten Geburtstag am 5. Mai 1846. Storm schreibt seinen Geburtstagsbrief am 2. Mai aus depressiver Stimmung – ein Dokument der Vorwürfe und Unzufriedenheiten, des Quälens und der Selbstqual; als Gratulationsbrief eine Zumutung. Zwei Tage später, einen Tag vor Constanzes Geburtstag, klagt Storm über Schillern und Schimmern vor den Augen, einen weiteren Tag später über Ohnmacht und Übelkeit. Die Familie erschrickt, weil ich so gelb im Gesicht geworden . Der Doktor muss kommen und erklärt es für vorübergehend . Am 6. Mai fühlt Storm sich schon etwas besser, trotzdem: Es ist nicht so ganz besonders mit mir. Die Sache zieht sich noch vierzehn Tage hin mit Halsweh und Husten, Flussfieber und Zähneklappern. Auch das wunderschöne Maiwetter mit Birnbaumblütenschnee hilft ihm nicht auf. Am 17. Mai meldet Storm: Bin übrigens recht wohl, mein Herzens süße geliebte Frau und hab recht frischen Muth mit mir. Körperliches und seelisches Befinden halten sich die Waage. Aber: Verzweifelt mager bin ich geworden.
Anders als bei Bertha von Buchan hat Storm in Constanze kein Kind vor sich, sondern eine erwachsene, junge Frau. Auch wenn sie immer wieder hören muss mein Kind oder mein geliebtes Kind , so ist sie ihm doch unendlich viel mehr: Du bist mir Mutter, Schwester, Braut und Alles, schreibt Storm eineinhalb Jahre nach der Verlobung.
Er kann schöpfen aus umfassender Bildung und Erfahrung, er hat erstaunliche Fähigkeiten, Gedanken und Ideen sich zu eigen zu machen, und seine überragende sprachliche Begabung gestattet ihm, für den vorschwebenden Ausdruck das treffende Wort zu finden. Darum ist die Korrespondenz der Verlobten auch ein Zeugnis fesselnder Briefkunst. Storm ist der haushoch Überlegene. Constanze versteht aber auf ihre Weise, nicht als Unterlegene dazustehen. Mit ihrem naiven, sympathischen Selbstbewusstsein kann sie Storm in die Schranken weisen: kann ich dafür das ich so liebenswürdig bin, daß alle Menschen sich um mich reißen . Sie ist stark und nur schwer unterzukriegen, sie wehrt sich ihrer Haut und wächst mit der Zeit an den Aufgaben ihrer Briefpartnerschaft. Sie versteht, Storm ein Mittel ans Herz zu legen, das ihn vor seinen enttäuschten Erwartungen schützen soll: freu’ Dich nur nicht zu sehr, denn wenn man das thut läuft es gewöhnlich nicht gut ab . Das Mittel nützt bloß nichts. Storm kriegt harte Nüsse zu knacken, wenn Constanze ihm offen und echt, beharrlich und unbeugsam entgegentritt. Das tut sie rhetorisch geschickt, auch mit Ironie. Damit überzeugt sie den Verlobten, der wenig Humor zeigt; er neigt zu Tadelsucht und Spitzfindigkeiten, und er muss mit seiner zwanghaften Vorstellung von der ordnenden eigenen Hand fertig werden. Er kann nicht loslassen, das ist seine große Schwäche, damit bringt er sich in Gefangenschaft. Constanze kann loslassen, das ist ihre große Stärke, damit gewinnt sie Freiheit. Er selber ist sich dessen durchaus bewusst, und deswegen schätzt und verehrt er Constanze, ja er beneidet sie um ihren standfesten, wehrhaften Charakter.
Ein Projekt der Liebe? Das ist es zuerst; aber es umfasst mehr. Es ist auch Bildungsprojekt: Constanze in Segeberg als Lernende, wie an einer Fernuniversität. In Husum der verlobte und verliebte Storm als Mentor und Erzieher, als Beckmesser und Sittenrichter, und als Oberlehrer: Du bist ja noch ein Kind in des Wortes bester Bedeutung; wirst auch immer mein geliebtes Kind bleiben; willst Du? Küß mich. Neben seinen oft hinreißenden Liebesbeteuerungen schickt er der Auszubildenden Hausaufgaben. Sie gelten dem Allgemeinwissen mit Schwerpunkt Literatur, sie beinhalten Lehrpläne für Gesangsübungen, sie werfen Fragen der allgemeinen und der
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