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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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besonderen Moral auf. Vor allem aber geht es in diesen Hausaufgaben um die Hohe Schule der Liebe, mit besonderem Augenmerk auf: Wie liebe ich meinen Geliebten richtig, wie entspreche ich seinen Erwartungen, und wie antworte ich ihm ordnungsgemäß?
    Aber Constanze ist eingespannt in den großen, kinderreichen Haushalt der Esmarchs. Sie muss Familienfeste und Abendeinladungen vorbereiten und mitgestalten. Sie ist lebensfroh und lacht gern. Sie liebt Gesellschaft und Kartenspiel, und wie Theodor verliert sie dabei auch hin und wieder Geld. Und sie geht gern »zu Ball«, wie Theodor. Schließlich ist sie regelmäßig »Ja«, so heißt das geheime Wort für Constanzes Monatsblutungen, die sie mit Schmerzen und Krämpfen und quälendem Unwohlsein ertragen muss und ihrem Verlobten meldet. Eine Stunde am Tag spazieren gehen hält sie für unumgänglich.
    Storm selber hat sich in Karl Leberecht Immermanns (1796–1840) Fragment gebliebenem Erinnerungsbuch »Memorabilien« (1843) weitergebildet, darin Einleuchtendes gefunden und sich an diesem gesunden, tüchtigen Sinn erquickt . Auch von Immermanns Goethe-Verehrung lässt er sich anstecken. Immermanns Erziehungsgedanken übernimmt und verinnerlicht er und macht sie zur eigenen Sache. Unsere Mädchen werden zum Teil noch jämmerlich erzogen. Ihre Seele wird abgerichtet zu allerlei Scheinwesen und Flitter […] aber sie wird nicht erfüllt mit dem Marke des Wissenswürdigen, mit einigen großen Gestalten der Geschichte und Literatur. Storm zitiert hier den zwanzig Jahre älteren Kollegen und legt Constanze dessen Worte ans Herz. Was der kluge, hochgebildete Immermann zu sagen hat, ist Storm aus der Seele gesprochen: Die Frauen sollen weniger elende Romane lesen und dafür ein wenig mehr die gesunden Gedanken großer Schriftsteller aufnehmen. Wäre es denn nun da nicht schön, wenn der Mann dem Weibe nachhälfe, so weit dies möglich ist? Storm will die umfassend gebildete Ehefrau an seiner Seite. Das zukünftige Ehepaar Theodor Storm soll nicht untergehen in der »philiströsen« Familie, also im Spießbürgerdasein, das er von seiner erhöhten Warte aus an seinen Eltern immer wieder kritisiert. Storm hat das Bildungsanliegen im Aneignungsrausch zur eigenen Sache gemacht und täuscht sich über die irdischen Möglichkeiten, das Projekt zu realisieren. Ich sehe alles, was meine Phantasie mir vormacht, schreibt er Constanze. Er verwechselt die Sache mit seiner Person, er trennt nicht das ihm vorschwebende Ideal von der Wirklichkeit und kann beides nicht mehr voneinander unterscheiden. Wer jetzt Kritik übt, trifft ihn persönlich. Dann wird er fuchsteufelswild; zornig und blind geworden sieht er Constanze als Zielscheibe für den eigenen Frust.
    Briefe ohne Anlass für Beschwerden und Vorwürfe sind selten. Zum Beispiel sind sie ihm zu kurz – wieder einmal ein Billetchen , schreibt er aus klaustrophobischer Vereinsamung und ist von einem bittern und schmerzlichen Gefühl erfüllt. Constanze reagiert auf die Vorhaltungen nach zwanzig Monaten Verlobungszeit – Theodors achtundzwanzigster Geburtstag steht vor der Tür – logisch und treffend: Es wäre besser für Dich gewesen in vieler Beziehung, lieber Theodor, Du hättest Dir eine andere Braut gewählt . Hat der Verlobte seine Verlobte wieder als geliebte künftige Frau im Blick, dann schreibt er: Kennst mich ja, mein Dange; mußt Engelsgeduld haben mit Deinem Brausekopf. Und oft genug verfällt der an sich selbst Leidende und Unglückliche in Zerknirschung und bittet um Liebe und Vergebung: Du weißt ja, ich selbst bin ein großer Sünder und verdiene Deine Liebe kaum; aber Liebe ist ja wie Gnade, sie giebt unverdient und auch den Sündern; so überschütte mich denn aus dem Füllhorn Deiner Liebe; ich strecke meine Arme sehnsüchtig nach Dir aus, mein geliebtestes süßes Leben .
    Auf dem Lehrplan steht auch Goethes »Wilhelm Meister«. Constanze schafft nicht immer das Pensum. Ich kann meiner Geliebten eher eine Todsünde, ja eine Untreue vergessen als eine Vernachlässigung, eine Rücksichtslosigkeit. Als ihm die Nase einmal wie ein Karfunkel anschwillt, sieht er die Schuld bei Constanze, denn sie leistet sich Sätze wie diesen: Und, lieber Theodor, verlangst Du nicht ein bißchen viel von mir.
    Damit sein Wille auch geschehe, erbittet er in einem Schreiben an den zukünftigen Schwiegervater freie Zeit für seine Verlobte. Die soll unbedingt das von ihm verfügte Pensum schaffen. Dafür berechnet er fünf Stunden täglich

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