Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
rechtfertigte. Ob es ihn nicht traurig mache, dass sie keine Jungfrau mehr sei, fragt sie ihn. Er könnt närrisch werden vor Entzücken , dass sie ihm ihre Jungfrauenschaft gegeben, antwortet Storm. Seitdem verwahrt er zwei Haarlocken. Du weißt ich habe eine fräuliche und eine jungfräuliche Locke von dir . Die jungfräuliche ist ihm Reliquie, die er kaum anzufassen wagt; die andere, die Storm sich gern vor dem Einschlafen auf die Brust legt, hat Constanze ihm geschenkt, nachdem es passiert ist.
In der Liebe denkt Storm hoch hinaus, oft allzu hoch hinaus und hinein ins Stormsche Wolkenkuckucksheim. Constanze dagegen ist bodenständig gestimmt, sie verfällt bei solchen Höhenflügen in Zweifel und Skepsis und kann nicht folgen. Storm bezaubert mit umwerfenden Liebeserklärungen und Beteuerungen – Sprachkunststücke eines Dichters, nichts von abgestandener Poesiealbumprosa, sondern immer lebendige, aus dem gemeinsamen Verlobungsleben gegriffene Geschichten, Erinnerungen und Gedanken, die erfüllt sind von Leidenschaft und Spannung. Das Leitmotiv Liebe mit den starken Nebenthemen Sexualität und Eifersucht zieht sich als roter Faden durch die Korrespondenz. Storm ist dabei der Fordernde, der Antreiber und Stichwortgeber und der von Sinnlichkeit und Leidenschaft Bebende, der dort, wo er die Grenzen des Schicklichen nicht zu überspringen wagt, mit Auslassung arbeitet. Sag mir doch, mein liebes Kind, in welchen Fluthen denn Dein Strumpfband beinah ertrunken wäre! Ich bin wirklich auf ganz närrische Gedanken gekommen; denn in welchen Fluthen kann ein Strumpfband wohl anders ertrinken, als – nun das mußt Du selber sagen.
Constanze hält sich bei solcher Schlüsselloch-Schnüffelei zurück, sie kann und will nicht mit gleicher Münze heimzahlen und versteckt sich wohl hinter einem angeblichen Mangel an sprachlicher Begabung: die Kunst, so zu schreiben wie Du, ist mir nun einmal nicht gegeben . Ihre Leidenschaft hält sich in Grenzen, überhaupt mag sie sich nicht zu weit hinauslehnen, sie hält sich selber für ungeheuer schlecht u. das ist mein Ernst. Trotzdem spricht aus ihren Briefen Zustimmung und Freude, Hingabe und Bejahung und wie Storm sie hin- und herreißt: mit Angst und Zittern erwarte ich Deinen Brief, schreibt sie ebenso wie: denn die Brieftage sind meine Lebenstage . Dann wieder bekennt sie ähnlich wie Fausts Gretchen im Kerker: Mein froher Sinn ist für lange gedämpft . Aber wenn sie auch oft genug wie am Boden zerstört auf die schurigelnden Zurufe ihres Verlobten reagiert, ist Constanze ihrem Theodor im Briefe-Liebesspiel doch nicht hilflos ausgeliefert: ich danke Dir mein einziger Mann, daß Du mich so schön belehrt, ich küsse Deinen lieben belehrenden Mund dafür – muß mich aber gewaltig dabei ausrecken, denn Dein Lehrstuhl ist ganz außerordentlich hoch!
Liebe und Religion, Gott und das Hohelied
Auch seine Theorien hat er auf dem Komposthaufen des von ihm verehrten Immermann wachsen lassen. Neben den »Memorabilien« entstammen sie dem Roman »Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken« (1839). Storm schätzt insbesondere die Heldin Lisbeth – nach ihr wird er seine erste Tochter benennen –, die als Jungfrau und mit dem Ansehen einer Priesterin diese Worte spricht: Denn wer die wahre Liebe empfängt, der empfängt die Ewigkeit im Herzen . Die Roman-Lisbeth hat die Liebe von ihrem Roman-Oswald empfangen, und Storm kann die Romanverhältnisse in sein Leben übertragen: Durch ihn erlebt Constanze die wahre Liebe. Von ihr erwartet er die unbeschreiblichste Liebe und Hingebung .
Auch das berühmte Liebespaar aus dem 12. Jahrhundert, Abaelard und Heloïse, lässt Storm auftreten. Deine Liebe ist meine Ehre, mein Reichthum, meine Seligkeit. Ich habe kein Verlangen zu befriedigen keinen Willen zu erfüllen, als den Deinigen, sagt Abaelard. Dieser Liebesgeschichte entnimmt Storm ein Argument, das seinem Leben eine entscheidende Ausrichtung gibt: die Liebe ist selbstständig und bedarf keiner Form auch der heiligsten nicht und darf sich durch keine bedingen oder bestimmen lassen . – Das sage ich Dein Theodor . Constanze stimmt zu; etwa der Form halber, damit das Thema so schnell wie möglich vom Tisch komme?
Schon gleich zu Anfang des Briefwechsels spricht Storm von der Liebe als nicht zu überbietendem Hochheiligem: Liebe ist unmittelbare Gottheit. Liebe ist Andacht, ja Liebe ist schon Religion. Constanze glaubt an den lieben Gott, der ihr ein treuer Begleiter ist, und Storm hält wie
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