Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
und bittet recht freundlich, Constanze diese Muße bei ihrer Mutter unzweifelhaft und ohne Abbruch zu vermitteln. Constanze reagiert zu Recht empört: Du hast mich sehr bös damit gemacht, daß Du Vater geschrieben. Am Tag darauf, es ist Storms Geburtstag, ein Sonntag, erhält sie von ihrem Herzenstheodor einen weiteren Brief, den er allein aus Anlass seines Ehrentages geschrieben hat. Sie bedankt sich bei ihm für den heutigen Brief, obgleich er mich in den grenzenlosesten Zorn versetzte, ich warf ihn auf die Erde und trat ihn mit Füßen, so bös war ich auf Dich .
Die Tage um Storms achtundzwanzigsten Geburtstag sind ein von ihm verursachtes Desaster für Constanze und für ihn selber auch. Constanzes eigenmächtiges Abweichen von dem, was er als den Pfad der Tugend ansieht, stellt ihn selber in Frage. Und er muss sich ihre Beschwerde anhören: Es ist ganz einerlei lieber Theodor, welcher Art meine Briefe sind […], zu Deiner Zufriedenheit sind sie nie, getadelt werden sie immer . Unregelmäßigkeiten an seinem Lebens- und Liebesprojekt empfindet er wie einen Angriff auf Leib und Leben, sie lassen ihn tief stürzen. Sein Selbstbewusstsein wäre gänzlich und für immer zerstört, könnte er nicht das eigene Versagen übertragen und es zum Versagen des Menschen ummünzen, dem er sich am nächsten fühlt: Constanze.
Bald nach der Verlobung haben die beiden sexuelle Beziehungen. Dein bin ich und will es ewig bleiben , schreibt sie, trotz allem. Sie muss es wohl schreiben, denn sie hat ihre Unschuld verloren. Sie muss nun auslöffeln, was sie sich eingebrockt hat: ich bin nun mal Deine Frau […], ich bin’s freilich nicht so ganz freiwillig geworden .
Für ein Mädchen aus gutem Hause, das eine gute Partie erwischen soll, ist das ein Risiko. Wenn sie vor der Ehe ihre »Unschuld« verliert, dann wird sie nach den Moralvorstellungen von damals und auch mit einem Herkommen von Esmarch-Niveau kaum mehr eine gute Partie sein. Eine Sorge, die Constanze an Storm bindet: wenn Du mich nicht mehr liebst zerstörst Du mich und mein ganzes Sein . Der Verlobte kann sich seiner Verlobten sicher sein.
Als Theodor diese untadelige Frau, dieses lautere Wesen, seine rechtschaffene Verlobte, Ende März 1844 nach Segeberg begleitete, war »es« noch nicht passiert. Aber fast, denn Theodor wagte sich in der Kutsche weit vor: Erinnerst Du noch, als wir von Neumünster nach Ricklinger Mühle fuhren machtest Du mir hinten mein Kleid und mein Korsett offen, ich weiß nicht mehr in welcher Absicht, aber ich weinte sehr nachher und Du sagtest dann – So Dange nun ist’s genug , schreibt Constanze aus der Erinnerung zwei Jahre später. Während der acht Tage bei Constanze in Segeberg ist es dann tatsächlich passiert.
Gleich im zweiten Brief nach seiner Rückkehr spricht er in einem Gedicht deutlich durch die Blume: So lange hab das Knösplein ich / Mit heißen Lippen gehalten, / Bis sich das Blättlein duftiglich / Zur Blume aufgespalten. / – So lange hab ich das Kind geküßt, / Bis Du ein Weib geworden bist! – süße Dange!
Das Veilchen, eine von Storms Lieblingsblumen, besingt der Dichter als jungfräuliche Vulva. Doch im letzten Vers schwenkt der Dichter plötzlich um und wechselt von der unpersönlichen Anrede im vorletzten Vers So lang hab ich das Kind geküßt ins Persönliche des »Du«: Bis Du ein Weib geworden bist. Und damit Constanze auch genau weiß, dass sie gemeint ist, fügt der Dichter noch süße Dange, ihren Kosenamen aus der Kindheit hinzu. Dem Ich des Dichters steht das Du der Geliebten gegenüber, untrennbar in Schuld und Verbindlichkeit.
Das Spiel mit dem Ich und Du und Es, den Wechsel vom Persönlichen ins Unpersönliche, vom Verbindlichen ins Unverbindliche und umgekehrt, konnte man schon in der letzten Strophe des Lockenköpfchen-Gedichtes erleben. Da verlässt das Dichter-Ich sein Parkett auf dem Weg vom zweiten zum dritten Vers, indem es, wie aus Angst vor der eigenen Courage und auf der Flucht vor der Verantwortung, in die dritte Person des anderen übertritt, zum armen bleichen Knaben, dem das Herze fast zersprungen wäre.
Deutlich in Prosa fasst Storm die Angelegenheit der Entjungferung im Brief vom 19. April 1844. Er bestätigt und bekräftigt Constanzes vertrauensvolle rückhaltlose Hingebung und daß ich Dich verehre wegen Deiner großen Hingebung und Dich deshalb höher achte und schätze, als wenn Du Dich mir in allem zimperlich entzogen hättest, bis das Wort des Priesters zu allem
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