Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
zufallen, dann fallen sie tatsächlich zu, und nun hält ein Gott die Zeit an. Es ist der Gott Pan, der den Mittag verzaubert. Pan hat Bocksfüße und auf dem Kopf trägt er kleine Hörner, er ist, wie der Ziegenbock, lüstern und liebestoll und jagt mit seinem aufgeregten Glied den Nymphen nach, die Nymphen fliehen spaßeshalber. Pan ist auch Musiker, wenn er die Flöte spielt, tanzen die Nymphen danach. In die Flötentöne hinein bläst er den Traum vom Jungbleiben. Pan selber ist ewig jung, er hält die Zeit an und gibt dem Augenblick unendlichen Raum. Wer daran glaubt, der ist unsterblich.
Die Stunden des Mittagszaubers sind noch nicht vorüber. Draußen ist es still und glühheiß; hier im Saal ist es lieblich; vor dem einen Fenster sind die Läden geschlossen, das andere ist verhängt; es ist dämmerig und schattig hier – komm, komm, Geliebte! Es ist eine Stunde zum Nichtstun der Liebe; ich schmachte nach dir; es steht ein ganzes Glas mit Rosen auf dem Tisch. Du glaubst nicht, wie es zärtlich macht, in diese halbgeöffneten, duftenden Kelche zu sehen. Komm, du süße, reizende Frau! Wir sind allein, ganz allein. Wirf deinen biegsamen Leib in einer Deiner orientalischen Stellungen aufs Sopha, wie du es liebst, laß mich zu deinen Füßen sitzen. Ich will dir die Strümpfe ausziehen, Du sollst die kleinen Füße nackt in die Sammetschuhe stecken; o wie das kühl und frei ist! Ich bin sehr verliebt in Dich, süße Frau, und, ach, Du weißt es, es gibt für mich nichts gefährlicheres als Deinen kleinen nackten Fuß zu sehn, er hat mir ja sogar oft genug den Kopf verdreht, wenn noch der weiße Strumpf ihn verhüllte. […] Hör Du, Du weißt ich kann die Kleider eigentlich nicht leiden, streif sie ab, die braune Lüge, und laß mich an Deiner braunen kühlen Brust liegen – bin ich nicht gar zu verliebt in dich? Zürnst Du oder darf ich s sein? – Meine süße geliebte, reizende Frau, laß mich Dich küssen, aber lange, ganz lange, bis daß auch Dich, geliebtes Herz, der holde Wahnsinn sanft bezwinget und Deines Lebens zarte Fluth unhaltbar mir entgegendränget .
Dieser Brief ist ein Storm-Herzstück. Von diesem erotisch bebenden Schlüsseltext führt ein weitläufiges Spurengeflecht hinaus. Orte, die in der Spur liegen, haben immer etwas von diesem Mittagszauber, den Storm in seinem Brief an Constanze erlebt, indem er ihn durch Niederschrift herbeiruft. Der heiße Sommermittag ist mythische Zeit: Die Götter halten die Waage / Eine zögernde Stunde an, schreibt Gottfried Benn in seinem Gedicht »Astern«.
Im Gedicht »Garten-Spuk« (1859) ist der heiße Mittag schon gewesen, es will Abend werden, am Spätnachmittag spukt es »abgekühlter«, das Bild eines Knaben erscheint dem Ich-Erzähler, das Bild des Erzählers als Knabe, eine Wiederbegegnung, ein Déjà-vu-Erlebnis, so vermutet man. Heimweh hat den Dichter in seinem preußischen Exil überfallen, er sehnt sich nach dem Husumer Garten. Der kleine Knabe, der da wie ein Spuk auftaucht, ist nicht das Kind Theodor, sondern sein ältester Sohn Hans, wie wir von Storm selber wissen. In Ton, Stil und Form ähnelt »Gartenspuk« einem anderen Gedicht: »Waldweg« (1851). Dieser Titel klingt wie ein Programm: Der Ich-Erzähler, der sich an seine Knabenzeit erinnert, muss ein Ausflugsziel gehabt haben, denn gleich zu Anfang heißt es: Durch einen Nachbarsgarten ging der Weg . Es ist also nicht irgendein Weg, sondern ein ganz bestimmter, den der Erzähler in Begleitung eines Hundes geht. Es ist sommerlich heiß, eine Schlange, Versucherin im Paradies, begegnet dem Erzähler, es ist kirchenstill , ihm graute vor der Mittagseinsamkeit . Hier ist es kein Ort der Angst, sondern die Einsamkeit des Mittags. Was hier und jetzt geschieht, erfährt der Leser nicht. Ein Gedankenstrich spendet, wie in der Musik die Fermate, Zeit und Raum für den Nachklang. Dann, der Gedankenstrich hat seine Arbeit geleistet, tritt der Erzähler offensichtlich aus dem Schatten, er muss nun eine gefährliche Stelle kreuzen – eine Lichtung im Wald, ein sonnig offner Raum ist zu überwinden. Dann ist es auch schon geschafft, trotzdem: Wohl hatt ich’s sauer und ertrug es kaum. Am Ende steht der Erzähler gerettet wie an der Kirchenschwelle. Die bedrohliche Mittagseinsamkeit des heißen Sommertages hat sich verwandelt in den Schutz der Schattenkühle, gespendet wie von einer Kirche, die Storm eigentlich als Anbetungsstätte des Gekreuzigten nicht geheuer sein kann. Er verwandelt sie,
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