Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Ereignissen, etwas vom Unheil des Naturzusammenhangs und von der Scham, daran zu rühren. So diskret versteckt sich der Mythos im 19. Jahrhundert; er sucht Unterschlupf in der Typographie .
Auch in der Novelle »Immensee« (1849) begeben sich zwei, der siebzehnjährige Reinhard und die zwölfjährige Elisabeth, als Teilnehmer einer Ausflug-Gesellschaft abseits in die Irre. Finden sie den Weg zurück? Mir graut , sagt Elisabeth (das sagt auch der Erzähler im Gedicht »Waldweg«). Ein Junitag, die Sonne stand gerade über ihnen; es war glühende Mittagshitze . Die beiden hören das Mittagsläuten: zwölf Uhr. Sie kehren zurück ohne eine Erdbeere. Sie haben aber abseits der Gesellschaft etwas anderes gefunden, eine Welt, die Natur und Märchen miteinander verbindet. Dort leben auch Elfen. Statt der Erdbeeren hat Reinhard ein Gedicht für Elisabeth gefunden, das mit den Versen endet: Sie hat die goldenen Augen / Der Waldeskönigin.
Die Zauberstimmung des Sommermittags, in den Pan seinen verborgenen Text von der Sexualität schreibt, kehrt noch in »Aquis submersus« wieder. Friederike Hornung, die ehemalige Zimmerwirtin der Storm-Söhne Hans und Ernst aus Tübingen, meldet sich beim Dichter, der ihr zu Weihnachten 1876 seine kürzlich herausgebrachte Novelle »Aquis submersus« geschickt hatte. Sie kann keinen Gefallen finden am Mittagsgott Pan und seinen Ungezogenheiten; sie weicht nach der Lektüre bestürzt und erschüttert zurück. Sie hat gesehen und gespürt, was im Verborgenen liegt und wirkt: Die Sonne glühte schon heiß hernieder und verbreitete den Ruch von Himbeeren, […] und nun begann ein seltsames Spiel der Phantasie . Das Spiel der Phantasie ist Storms Lebensgesang, den er in keiner seiner Novellen so eindringlich und leidenschaftlich, so sündhaft singt wie in »Aquis submersus«. Wie um den Gesang nicht zu verräterisch und gefährlich klingen zu lassen, packt er das Ganze in einen doppelten, also extrastarken Erzählrahmen der »zwei Ichs«, er schiebt das Kerngeschehen der Novelle zweihundert Jahre vor die eigene Zeit ins 17. Jahrhundert zurück, und schließlich verfremdet er die wichtige Binnenerzählung mit einer altertümelnden, so nicht mehr gesprochenen Sprache. Dafür zahlt sie ihren Preis, Schönheitskönigin unter den Novellen wird sie nicht: Als Meisterstück dürfte sich ohne Widerrede »Aquis Submersus« anreihen, wenn unser Dichter nicht hier und da die Form durch Seltsamkeiten der Syntax, Flexion und Wortwahl verschnörkelt hätte . Dagegen schreibt Friederike Hornung: Was nützt die vollendetste Form, wenn der Kern durchfressen ist? Seit ich »Aquis submersus« gelesen, ist mir mit einem Mal klar, weshalb mich das Lesen Ihrer Schriften in unglückliche Stimmung bringt: es ist ein süßes Gift darin, etwas von der Pest, die im Finstern wandelt, von der Seuche, die im Mittag verwüstet (Ps. 91, V. 6–7). Ich möchte, und mit mir alle, in deren Herzen Gott geleuchtet hat, zum Lichtglanz der Erkenntnis Seiner Herrlichkeit im Angesichte Jesu Christi (2. Kor. 4,6) gleichsam schwebend durch die Welt gehen können, um nicht mit dem Kot der Erde in Berührung zu kommen . Diese bibelfeste Leserin riecht den Braten, den Storm aufgetischt hat. Sie, die im fortgeschrittenen Alter einen Prediger der strenggläubigen, freikirchlich-christlichen Darbysten heiratete, muss Storms Heiden-Gesang von Liebe und Tod als verstörend und empörend begreifen. Seine Antwort vom März 1877, die nur als Entwurf vorliegt, ist ein rhetorisches Glanzstück, wie das Plädoyer eines Verteidigers vor Gericht:
Meine verehrte Freundin!
Ihre kleine Predigt über »Aquis submersus« anlangend, so müssen Sie Ihren Gott bitten, daß er Ihnen eine Welt erschaffe, welche nicht wie die vorhandene auf der Vereinigung der Geschlechter beruht; solange Ihr Herrgott das nicht für angemessen findet, dürfen Sie als gute Christin doch wohl nicht die Existenzbedingung seiner Schöpfung als Pest und Kot bezeichnen. Wir andern wollen uns aber der Schöpfung freuen, wie sie ist; wir wollen uns dieses ihr Fundament und den Zauber, der es umwebt, nicht rauben lassen. Man könnte allenfalls mit mir rechten, ob ich für den ästhetischen Genuss der Dichtung den Schleier des zarten Mysteriums nicht um eine Linie zu weit gelüftet. Im übrigen bin ich ruhig. Wer das, was ich geschrieben, für frivol oder lüstern hält und nicht den tiefen erschütternden Ernst fühlt, von dem diese ganze Dichtung getragen wird, der weiß nicht nur
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