Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
stellt sie an einen nur ihm gehörenden heiligen Ort, in dem er seinen Gott und seine Liebe walten lässt, und dieser Ort ist das Gedicht.
Storm nennt es im Untertitel »Fragment«. Warum? Wäre hier vielleicht noch etwas zu erzählen, was nicht erzählt worden ist? Der Gedankenstrich legt diese Vermutung nahe. Nicht alles muss erzählt werden, wenn der Gedankenstrich miterzählt. So mag der erzählte Stoff fragmentarisch bleiben – für den Leser hat das Gedicht nichts Unvollendetes. Es gehört zu Storms großen Gedichten.
Die kurze Geschichte vom Waldweg erscheint im Gedicht, in der Novelle, im Brief. Überall schlägt der Dichter denselben poetischen Ton an. Der Leser glaubt sich in einem Märchen, ihm ist, als verlaufe er sich selber und komme nur schwer heraus aus der Mittagseinsamkeit. Während Storm im Gedicht (1851) von einem Hund begleitet wird, ist es im Brief an Mörike (1854) der um ein paar Jahre ältere Vetter Jürgen; auch in der Novelle »Im Schloß« (1861) ist die Rede von diesem Vetter. Das Gedicht erzählt von einer Schlange, in Brief und Novelle tritt eine Eidechse in zwei verschiedenen Kleidern auf, einmal im smaragd-grünen , einmal im glänzend grünen Kleid, immer mit goldenen Augen .
In der Mittagseinsamkeit tritt der Erzähler in Zeit und Raum von Mythos und Märchen. Smaragdeidechsen leben hier oben nicht; diese grünen, licht- und wärmehungrigen Tagtiere mögen am liebsten dort sein, wo auch der Mittagsgott Pan seine Lebenskunststücke aufführt. Zum Mittagsgott Pan hin entrückt sich also der Erzähler.
Offensichtlich sind die drei Schilderungen von ein und derselben munter sprudelnden Erlebnisquelle gespeist, der durchgreifenden Erfahrung eines heißen Sommermittags. Näheres erfährt der Leser nicht. Nicht nur im Gedicht, auch in Brief und Novelle arbeitet der Dichter mit Gedankenstrichen, in der Novelle sogar mit einem doppelten: auf einem bemoosten Baumstumpf lag eine glänzend grüne Eidechse und sah mich wie verzaubert mit ihren großen goldenen Augen an. – – Ich weiß dies Alles genau.
Nach den beiden Gedankenstrichen bekräftigt der Erzähler noch einmal alles, lässt keinen Zweifel zu, auch nicht an dem, was die Gedankenstriche für sich behalten. Vetter Jürgen, der den Erzähler auf seinem Ausflug in die Mittagseinsamkeit begleitet hat, fügt dem Ganzen noch einen weiteren »Gedankenstrich« hinzu: Er kann sich nicht erinnern, ja er weist das vom Erzähler beschriebene, genau erinnerte gemeinsame Erlebnis später heftig und nachdrücklich zurück.
Drei verschiedene Erzählungen, die aus einem einzigen Erlebnis hervorgegangen sind. Seine Bedeutung wird durch seinen Einzug in alle drei Gattungen der Storm-Kunst dick unterstrichen. Wie sie die sommerlich heiße Mittagseinsamkeit beschwören – das hat sehr wahrscheinlich seinen Grund in einer sexuellen Erfahrung. Mag sein, dass die Schlange im Gedicht auftritt wie die Versucherin im Paradies, um den Versuchten vom Baum der sexuellen Erkenntnis essen zu lassen. Eindeutig aber ist der Auftritt der beiden Eidechsen in Brief und Novelle. Sie sind, mehr noch als die Schlange, Figuren des sexuellen Mythos. Sie befördern das Verlangen nach Beischlaf, und dieses Verlangen kann nur der besiegen, der sie in seinem eigenen Harn ertränkt, schreibt Plinius der Ältere.
In Storms Erzählungen von der Mittagseinsamkeit verschwindet die Eidechse (althochdeutsch: Hagedisse=Hexe) nicht, wie sie es von Natur aus tun würde, sondern hat ein Auge-in-Auge mit dem Knaben. Es kann nicht anders sein: ein verzaubertes Wesen.
Knaben wie Mädchen haben erste sexuelle Erfahrungen mit ihresgleichen. Nicht abwegig wäre folgende Vermutung: Storm hatte als Knabe ein sexuelles Erlebnis, wahrscheinlich mit seinem älteren Vetter. In seiner Erzählung wagt er sich vor mit Worten, soweit er sich das selber gestattet, und mit Gedankenstrichen und der rhetorischen Figur des alles abstreitenden Vetters setzt er die Erzählung mit anderen Mitteln fort.
In seinen »Noten zur Literatur« schreibt Adorno zum Thema »Der ernste Gedankenstrich«: sein unübertroffener Meister […] war Theodor Storm. Selten sind die Satzzeichen so tief dem Gehalt verschworen wie jene in seinen Novellen, stumme Linien in die Vergangenheit, Falten auf der Stirn der Texte. Die vortragende Stimme fällt mit ihnen in sorgenvolles Schweigen: die Zeit, die sie zwischen zwei Sätze einsprengen, ist eine des lastenden Erbes und hat, kühl und nackt zwischen den angezogenen
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