Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
schönsten Heimatlieder gedichtet: »An der Saale hellem Strande«. Er gehörte zu den älteren Tunnel-Mitgliedern und stand in väterlicher Distanz zu den jüngeren wie Emanuel Geibel (1815–1884), Theodor Fontane (1819–1898), Friedrich Eggers (1819–1872), seinem ehemaligen Schüler und Redakteur des »Deutschen Kunstblattes«, oder dem erheblich jüngeren Paul Heyse (1830–1914), der sein Schwiegersohn werden sollte. Auch der Maler Adolph Menzel (1815–1905), der Kuglers bekanntestes Werk, die »Geschichte Friedrichs des Großen« (1840) bebildert hatte, war dabei. Storm selber war kein Mitglied, sondern trat nur wenige Male als Gast in Erscheinung.
Kugler, der sich nebenher auch als Dramatiker, Novellist und Dichtersmann betätigte und darin seine eigentliche Bestimmung sah, versammelte um sich noch eine extra ausgewählte Schar, die sich »Rütli« nannte. Meinten sie damit die vor fast sechshundert Jahren (1291) in der Schweiz zum »Ewigen Bund« Eingeschworenen? Oder eine »kleine Rodung«, die Lichtung im Wald, wie die schweizerische Bedeutung von »Rütli« nahelegt? Die Eingeschworenen trafen sich am Samstagabend bei den Mitgliedern zu Hause, und selbstverständlich waren dann auch die Frauen dabei, selbstverständlich mit ihrem Handarbeitszeug im Hintergrund, während wir »von Fach« , wie Fontane mit ernstgemeinten Anführungsstrichen schrieb, mit dem Dichter-und-Denker-Zeug den Abend gestalteten.
Gleich am Anfang seiner Tunnel- und Rütli-Zeit machte Storm Erfah-
rungen mit der Salon-Zensur. Für die im »Rütli« von Kugler und Fontane herausgegebene Zeitschrift »Argo« – man war nicht nur »Lessing« und »Lafontaine«, man war auch noch »Argonaut« – bat man Storm um einen Beitrag. Seine Novelle »Ein grünes Blatt« lag noch in der Schublade. Der
Text gefiel, der Schluss war rätselhaft, aber er wurde schließlich so angenommen, weil Storm nichts daran ändern wollte; ihm selber war der Schluss eben nicht rätselhaft, er hatte ihn mit ganz bewußtem Instinkt geschrieben , wie er Fontane schrieb. Dann aber, ganz am Ende der Novelle, stand ein Gedicht mit fünf Strophen zu je vier Versen, überschrieben mit »Des Dichters Epilog«:
Ich hab es mir zum Trost ersonnen
In dieser Zeit von Schmach und Schuld,
In dieser schweren Noth der Zeiten
In diesen Zeiten der Geduld.
So hießen die ersten vier Verse. Drei Jahre zuvor, Ende 1850, in der Entstehungszeit der Novelle, hatten sie noch einen anderen Klang unter dem Titel »Ein Epilog«:
Ich hab‘ es mir zum Trost ersonnen
In dieser Zeit der schweren Not,
In dieser Blütezeit der Schufte,
In dieser Zeit von Salz und Brot.
Dass die Verse von 1850 leidenschaftlicher und genauer, poetischer und kraftvoller, folglich schöner sind als die abgerüsteten von 1853, ist offensichtlich. Fontane, der verantwortliche Redakteur der »Argo«, nimmt die Verse in der lauen Form zur Kenntnis; Storm hat sie wahrscheinlich im Wissen um die Herausgeber-Nöte umgedichtet, und nun waren sie nicht mehr so brisant wie die ursprünglichen, die Fontane damals höchstwahrscheinlich gar nicht kannte. Storm hatte sie in einer Zeit geschrieben, als Dänemarks Sieg und die Niederlage der Schleswig-Holsteiner noch frisch in Gedanken und Seele seiner Landsleute waren. Schufte waren solche, die sich mit der Dänenherrschaft arrangierten oder gar ihren Gewinn daraus zogen.
Was nun hat sich der Dichter zum Trost ersonnen ? Selbstverständlich die zwanzig Verse, denn Dichten ist auch für Storm Therapie. Aber es ist noch mehr: Trost ist ihm zuallererst die Novelle selber, »Ein grünes Blatt«, die Liebesgeschichte. Denn was kann Storm besser trösten als eine Liebesgeschichte?
Fontane hat selbst mit der entschärften Version noch ein Problem. Auch Kuglers Mitherausgeber-Stimme der »Argo« spricht sich gegen eine Veröffentlichung aus. Fontane schreibt eine Bleistiftnotiz neben die Storm-Verse: Sehr schön! Aber in diesen Tagen nicht gut zu gebrauchen . Damit findet Storm sich ab, sein Novellen-Anhang muss nicht unbedingt in die erste »Argo«-Nummer, in das »Belletristische Jahrbuch für 1854«.
Lessing gegen Tannhäuser, ein Sängerwettstreit
Wie die Zensur sich als Selbstzensur in die poetische Produktion einschleicht, geht aus einem »Sängerwettstreit« hervor, in dem Storm als »Tannhäuser« und Kugler als »Lessing« um den Dichter-Lorbeer ringen. Der Wettstreit begann am 2. Januar, auf dem ersten Tunnel-Treffen des Jahres 1853. Storm ging wohl eher in
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