Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
wollte Dich deßhalb bitten, Hans noch mit solchen kleinen Strumpfgamaschen, und etwa beide Kinder mit kleinen Filzüberschuhen zu versehen; Dir wird vielleicht der Segeberger Schemel genügen. Der Zug hält ungefähr alle Stunde 6 Minuten, einmal 3, einmal 4, und einmal 15 Minuten, (zum Mittagessen in Wittenberge) was jedesmal angesagt wird, mit unter hält der Zug auch ohne, daß die Thüren geöffnet werden, außer für die, welche an den Punkten ab wollen. Die sechs Minuten mußt Du jedesmal für die Kinder benutzen. Das Sitzen anlangend, so mußt Du Dich mit dem Kleinen auf den Rücksitz setzen, Bertha [Dienstmädchen] mit den Jungens Dir gegenüber. Suche übrigens der Letzteren wegen beide Fenster zu zu halten, was in dem großen Raum gar nicht genirt, denn der Zug eines offnen Fensters trifft gerade die entfernteste Ecke; ich hab es gestern empfunden. Schwiegervater Esmarch lässt beim Umzug seine fürsorgliche, Übersicht bewahrende Hand walten. Dann kommt Constanze mit den drei Jungen und die Familie zieht ein in die Brandenburger Straße 70.
Ironie des Schicksals: Storm bei den Preußen! Wenn er von seiner angenehmen Potsdamer Mietwohnung, geräumige Kinderstube, helle, freundliche Wohnstube, die Heimatgeschichte der letzten fünf Jahre überblickt und dabei Familie, Beruf und Liebesleid beiseitelässt, dann liegt ihm dieses vor Augen: Sechs Verträge sind zwischen den Großmächten innerhalb von drei Jahren ausgehandelt worden; alle behandeln die Herzogtümer, von den politischen und sozialen Interessen der dort lebenden Menschen handeln sie nicht. Die Großmächte Dänemark, Schweden-Norwegen, Russland, Preußen, Österreich, Frankreich und England sind angetreten im Geist des Wiener Kongresses. Der hält mit seinem langen Arm am Gesamtstaat fest, fest hält er auch am »Up ewig ungedeelt« von Ripen. Bismarck regiert in Berlin und wartet ab mit Worten, die er beim Silvesterpunsch 1863 noch zu sagen haben wird: »Die Up-ewig-ungedeelten müssen einmal Preußen werden.«
Exil in Potsdam
1853–1856
Storm im Militär-Kasino Potsdam
Potsdam – diesen Musterort preußischer Geschichte und Gesinnung, den ersten Schauplatz seines Exils, an dem er von 1853 bis 1856 lebte, erwähnt Storm rückblickend in »Meine Erinnerungen an Wilhelm Mörike« (1876). Von einem großen Militär-Kasino schreibt er und liegt damit auf einer Linie mit dem späten Alexander von Humboldt, der Potsdam 1854 in einem Brief an Varnhagen als öde Kasernenstadt bezeichnete. Und schon von Voltaire ist überliefert: Mehr Bajonette als Bücher gebe es in dieser Stadt.
Friedrich Wilhelm I., der »Soldatenkönig«, hat für diese Militär-Stadt den Grundstein gelegt. Als er 1713 König in Preußen wurde, standen in Potsdam 199 Häuser, in denen 1500 Menschen wohnten. Am Ende seiner Regierungszeit lebten 20 000 Menschen in 1163 Häusern. Fast jeder zweite Potsdamer war Soldat oder Angehöriger einer Soldatenfamilie. Die berühmten »Langen Kerls«, die der König in ganz Europa werben ließ, überragten alle übrigen Untertanen. Eine »Rangierrolle« von 1739 verzeichnet an erster Stelle James Kirkland mit sechs Fuß und elf Zoll , macht stolze zwo Meter und siebzehn Zentimeter für den Mann aus Irland.
Im 18. Jahrhundert gab es, wie auch anderswo in deutschen Landen, in Potsdam noch keine Kasernen. Soldaten und ihre Familien wohnten in Bürgerquartieren mitten in der Stadt. Sie gingen zum Gottesdienst in die Garnisonskirche, von der heute nur noch der Turm als Ruine steht. Sie standen Wache an der Alten Wache und hatten ein Auge auf die Stadttore. Soldatenkinder, die Waisen geworden waren oder von ihren Eltern nicht versorgt werden konnten, kamen ins »Große Militärwaisenhaus«; dort wurden sie von pietistisch gesinnten Erziehern fromm herangebildet und in Gehorsam geschult. Kein Zuckerschlecken: fünfzig Stunden Kinderarbeit in der Woche, schlechte Ernährung und mangelhafte Hygiene, Krankheit und Epidemien; fünfzehn Prozent der Waisenhauskinder starben jedes Jahr.
Erst im 19. Jahrhundert, nach dem Sieg über Napoleon, im Zuge der Heeresreform und mit Einführung der Wehrpflicht, baute Preußen Kasernen. In Potsdam entstanden sie zunächst im Stadtzentrum; aber die Soldaten waren isoliert. Trennung von Militär und Zivil symbolisierte auch die Architektur der Kasernen. Sie standen wie normannische Trutzburgen mit Schießscharten, Wehrtürmen, Zinnen und demonstrierten damit die Macht des preußischen Staates, der auch seinen
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