Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
gedrückter Stimmung zu diesem Abend; denn seine Vorstellungsgespräche um die Weihnachtszeit in Berlin waren enttäuschend verlaufen. Nun stand er kurz vor der Abreise nach Hause. Vermutlich hob ihn die Tunnel-Atmosphäre in bessere Stimmung, Sorgen und Nöte konnte er für ein paar Stunden vergessen.
Kugler trug seine Ballade » Stanislaw Oswiecim« vor . In siebenundzwanzig Strophen zu je vier Versen erzählt der Dichter vom Schicksal eines Geschwisterpaares, das einem Grafengeschlecht entstammt: Stanislaw und seine Schwester, deren Name die Ballade nicht verrät, sind einander in Liebe verbunden. Stanislaw will sein Inzest-Verhältnis durch den Papst in göttliches Recht setzen lassen, damit könnte er mit seiner Schwester auch in den heiligen Bund der Ehe treten.
Kugler schildert vor allem Stanislaws Reise hoch zu Ross nach Rom und seine Erlebnisse beim Heiligen Stuhl. Papst Urban weist den Pilger zunächst ab, doch als der zwanzig Messen so fromm gestiftet hat, weitere Buße tut und weitere klingende Münze springen lässt, wird Urban weich: Brief und Siegel sollst du empfahn / Und deine Schwester freien. Mit dieser Botschaft kehrt der Erlöste glücklich heim. Die Kirche hat ihren Segen gegeben, er darf die geliebte Schwester zur Frau nehmen, das Volk wird die Entscheidung des Papstes bejubeln. Ende gut, alles gut. Aber nicht bei Dichter Kugler! Wie in einem Drama lässt er einen Deus ex Machina richten, den Gott, der alles wendet, den Helfer in der Not. Die letzten vier Verse dieses Inzest-Dramas heißen darum: Aus der Kapelle schimmerten roth / Die Kerzen am Altare: / Es lag die junge Gräfin todt / Auf der schwarzen Bahre. Opfer müssen gebracht werden, damit die alte Ordnung nicht ins Wanken gerät.
Kugler hatte den Stoff einer alten polnischen Sage entnommen, der Sage von Anna und Stanislaw Oswiecim aus Kunowa in Galizien. Er hat sie, in Vers und Reim gebracht, fast so nacherzählt, wie sie überliefert ist: Am Ende findet Stanislaw seine Schwester Anna dem Tode nah, sie stirbt in seinen Armen, nachdem sie von ihm noch die gute Nachricht vernommen hat. Auch die Sage lässt den Deus ex Machina für sich arbeiten: Er muss verhindern, was nicht sein darf, er lässt die Autorität von Kirche und Papst unangetastet, er sorgt für das Volk, das einem ungewöhnlichen Liebespaar huldigen und ihm ein Denkmal setzen kann.
Wie die Diskussion am besagten Tunnel-Abend verlief, geht aus Fontanes Sitzungsprotokoll hervor. Es gab einen lebhaften Streit. Die Angreifer tadelten die Wahl des ganzen Stoffs, die Widerwärtigkeit einer solchen Liebe. […] Die Verteidiger und Lobspender meinten hingegen: der Stoff sei ganz famös, Geschwisterliebe sei keineswegs widerwärtig . Entschieden dagegen war Storm. Nicht, weil der Stoff ihm unpassend erschien, war er kontra, sondern die Art und Weise der Stoffbehandlung gefiel ihm nicht, er kritisierte das »Wie«. Ihm fehlte die schwüle Stimmung , so erinnert Fontane Storms Reaktion in »Von Zwanzig bis Dreißig«. In einem Brief an Mörike schildert Storm seine Meinung zum Gedicht so: Mir gefiel es nicht, namentlich weil mir der so sehr im Stoffe liegende Conflict von Sitte und Leidenschaft ganz außer Acht gelassen schien. Ich äußerte dieß leise gegen Eggers, der hinter mir saß . Ob Friedrich Eggers alias »Anakreon« Freund Storm dann aufforderte? »Nun, Tannhäuser, dann machen Sie’s doch?« Storm versprach, für die nächste Sitzung einen Gegenentwurf zu liefern, ein Stück Dichtung aus eigener Hand zum Thema »Geschwisterliebe«.
Nach der Sitzung in Berlin fuhr Storm nach Altona zur Scherff-Verwandtschaft, von dort weiter nach Hause. Etwa vier Wochen blieben ihm bis zur nächsten Tunnel-Sitzung am 13. Februar, dann musste sein Beitrag auf dem Salontisch liegen. Würde der Husumer den Sängerwettstreit gewinnen? Schon auf der letzten Sitzung hatte er eine Vorstellung von der eigenen Dichtung, sie sollte so etwas wie das Gegenteil von Kuglers Ballade sein. Als er in der zweiten Januarhälfte nach Buxtehude reiste, nutzte er die Zeit. An Gottfried Keller schreibt er später, wie ich auf der Fahrt nach Buxtehude, wo ich Bürgermeister werden wollte, in dem alten Chaise-Wagen, worin ich durch die Lüneburger Haide malte [sic], daran gearbeitet habe . Am 6. Februar schickte er das Gedicht an Friedrich Eggers, den Tunnel-Freund in Berlin.
Auf der ausschlaggebenden Sitzung las zunächst Kugler seine Ballade noch einmal, dann folgte Storms Konkurrenzstück, gelesen von
Weitere Kostenlose Bücher