Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Friedrich Eggers. Storms Ballade fiel durch, ja sie löste Empörung aus. Fontane war auf der Seite der Gegner: Ich bekenne freimüthig, daß ich mit der Majorität war und bewunderte und – verwarf .
Eggers, der Storms Stück vorgelesen hatte und in dessen Namen das Urteil forderte, schrieb dem Sänger aus Husum: Ihre Arbeit machte die größte Wirkung. Ich musste gleich noch einmal lesen und die letzte Hälfte noch einmal. Die lebhafteste Debatte schloß sich an und ich habe niemals Himmel und Hölle so nah beieinander gesehen. Man wurde sehr warm, die einen erhoben das Gedicht bis an die Sterne, kamen an den grünen Tisch gelaufen um sich
die Prachtstellen noch einmal einzuprägen, die Andern verdammten es in sittlicher Entrüstung . Auch Eggers ist entschiedener Gegner, und man darf
seine freundlich zugedachte Schilderung, einige Tunnel-Brüder hätten das Gedicht in den Himmel gehoben, anzweifeln. Fontane berichtet darüber in seinem Tunnel-Protokoll nüchterner: Die vortreffliche Mache […] wurde bereitwillig hervorgehoben, nichtsdestoweniger brach man um des verfehlten und beinah widerwärtigen Schlusses willen den Stab über das Ganze und bezeichnete es als eine freilich talentvolle, dennoch aber durchaus verwerfliche Arbeit .
Es war die »Sittlichkeit«, die Storms Gedicht fehlte. Er lässt in der letzten Strophe die Geschwisterliebe zu ihrem »natürlichen Recht« kommen, nachdem die Rom-Pilgerreise des Bruders umsonst gewesen ist:
Sie gab ihm ihren süßen Mund,
Doch war sie bleich zum Sterben;
Sie sprach: »So ist die Stunde da,
Daß beide wir verderben!«
Eggers weiter: Will aber der Dichter diesen Stoff behandeln, so hat er zu zeigen, entweder: wie seine Helden sich selber besiegen und die Sittlichkeit Recht behält oder: wie sie die Leidenschaft haben groß werden lassen, dass sie das Ewige nur noch durch den Untergang des Zeitlichen haben retten können, so dass sich die Sittlichkeit ihr Recht mit einem Opfer erkaufen muss. Zu dem dritten aber: dass sie sich die Leidenschaft über den Kopf wachsen lassen und dem ewigen Verderben mit Pauken und Trompeten in die Arme rennen, dies darzustellen, dazu hat der Dichter kein Recht.
In Kuglers »Stanislaw Oswiecim« erkauft sich die Sittlichkeit ihr Recht mit einem Opfer . Damit bleibt die Sitte gewahrt, der Anstand ist wieder in Amt und Würden. Dichter Kugler, Kunsthandwerker der Poesie, belässt Gedicht und Welt in schönem Gleichklang. An dieser Poesie hätte der Preußenkönig Gefallen haben können. Ob Kugler nach diesem Gefallen geschielt hat? Die Entrüstung, mit der Kugler seine Verse würzt, das Wettern gegen den Papst als einen geldgierigen und machtgeilen Fürsten der Finsternis sind gespielt und von leerer Leidenschaft; im protestantischen Preußen eine leichte Übung, die schnell den Beifall der Menge erhält, und den des Königs dazu.
Während Kugler seinen Erzählstoff in historischer Bewegung von A nach B und wieder zurück laufen lässt, hält Storm ihn an einem anonymen Ort fest, auch das Geschwisterpaar lässt er anonym. Ihn interessiert nicht die historische Bewegung, sondern das poetische Verharren, in dem er das Problem der Geschwisterliebe aus der Empfindung der daheimgebliebenen Schwester entwickelt. Von ihr ist bei Kugler kaum die Rede, seine Ballade ist eine »Männer-Ballade«, die von der Bewegung des Ortes und der Zeit lebt, während bei Storm Bewegung geschildert wird als Erschütterung der Seele: Dann fuhr ihr Herz dem Liebsten nach / Allüberall auf Erden. Bewegung aber auch als fortziehender Sommer, als die sich verfliegende Nachtigall, als Tore, die sich öffnen.
Storms Beitrag zum Sängerwettstreit zählt nicht zu seinen großen Gedichten, ja er ist eigentlich misslungen. Trotzdem offenbart die Ballade viel von ihm. Er erkannte, begriff und billigte die Leidenschaft und Echtheit dieser Liebesgeschichte, und er fühlte ihre beispiellose Tragik wie wohl niemand seiner Tunnel-Kollegen. Sie musste poetisch von »innen« entwickelt werden, sie musste stehen gegen Sitte, Moral und Gesellschaft und damit den unlösbaren, ins Verderben führenden Konflikt ausleuchten. Ob er dabei an seine Amour fou mit Doris Jensen denkt? Auch hier ging es um Leidenschaft und Sittlichkeit.
Während Kugler die Geschwisterliebe von oben herab, eher teilnahmslos-objektiv und staatstragend abhandelt, lässt Storm sich vom Stoff packen, er macht die Leidenschaft des Geschwisterpaares zu seiner eigenen, er bekennt sich zu ihr, wie am Ende das
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