Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
erklingen die beiden Melodien, und die Papageno-Melodie liegt unter den Versen des Dichters Ludwig Heinrich Hölty (1748–1776): Üb immer Treu und Redlichkeit / Bis an dein kühles Grab, / Und weiche keinen Finger breit / Von Gottes Wegen ab. Lebensregeln und Merkreime (Thomas Mann), die »Der alte Landmann an seinen Sohn« in zwanzig Strophen stiftet.
Hölty war studierter Theologe und gehörte, wie Constanzes Großvater Christian Hieronymus Esmarch, dem Göttinger Hainbund an. Davon erzählten sich Storm und Constanze schon in den Briefen während ihrer Verlobungszeit. Hölty hat also durchaus familiäre Nähe, und als Dichter nahm Storm ihn auf in seine Anthologie »Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius«, das während des Preußisch-Französischen Kriegs 1870 zum ersten Mal erschien. Das Gedicht vom Landmann hat er allerdings nicht in die Sammlung aufgenommen; aber es wird ihm in den Ohren geklungen haben, wenn die Glocken der Garnisonskirche seine »Merkreime« aufriefen. Storm hat sie nicht vergessen; in seiner späten Novelle »Bötjer Basch« (1886) werden sie immer wieder, also dem Glockenspiel ähnlich, von einem Dompfaff im Käfig gesungen.
An diesem Maitag hatte die Stormfamilie, also die Eltern mit dem sechsjährigen Hans, dem dreijährigen Ernst und dem elf Monate alten Karl, der noch von Constanze gestillt wurde, den Park von Sanssouci besucht und dort das Neue Palais besichtigt. Auch das Kindermädchen Bertha war dabei. In Sanssouci war es übrigens köstlich; alle Wasser sprangen und alle Nachtigallen schlugen, und dabei das schöne durchsichtige Maiengrün. Es fehlten nur die rechten Augen, das alles anzusehn , schreibt Storm am Ende mit seinem Heimwehblick nach Husum.
Der Umzug von der Brandenburger Straße in die Waisenstraße steht bevor, die dort gemietete Wohnung ist preisgünstiger; nur ist die Kinderstube etwas kleiner und nach dem Hofe zu, und Constanze und ich müssen in einer dunklen Stube schlafen. Hans und Ernst werden die nette jetzige Vermieterin, Frau Meise, vermissen und den Garten hinterm Haus, in dem sie spielen dürfen. Schule steht für die beiden zum Winter auf dem Plan.
Sorgen um die Söhne: In Potsdam sind die Pocken ausgebrochen; sie müssen geimpft werden, was hier leider nicht vom Hausarzt geschieht. Storm malt die Söhne gern in Idealbildern; er hegt, ganz der alte Phantast, für sie große Wünsche und Pläne; wer seine Briefe liest, kriegt das dick aufgetragen. Ernst ist schon ein wahrer Riese, mit, wie ich jetzt selber sagen muss, fabelhaft schönen blauen Augen, die Storm auch schon bedichtet hat. Über Karl lautet die Botschaft an die Freunde Brinkmann: Er ist in seiner Totalität vielleicht der am Besten Ausgerüstetste, hübsch, klug, lebendig, energisch .
Für den Ältesten sind Storms Wunschträume gemischt. Von seiner freien gewölbten Stirn und seinen ernsten leuchtenden Augen schwärmt er, als der Knabe gerade zwei Jahre alt ist. Dann plötzlich: Mit drei Jahren fängt Hans zu stottern an, nachdem er schon so präzise sprach . Dann beobachtet Storm Unheimliches: Hans seine Augen wachen nur bei innerer Erregung und in der Abendstunde aus ihrer träumerischen Dämmerung auf, und dann fürchte ich immer einen künftigen Poeten zu sehen, schreibt er am 22. August 1854 an Brinkmann. Hat er etwas Koketterie in diese Beschreibung gelegt? Das ist ein echtes Poetenkind , meldet er stolz seinen Eltern. Der Köchin scheint das Unheimliche an diesem Kind aufzufallen: Ach nä – das Kind! Den kriegen Sie nicht groß, Frau Ackcessorn, sagt sie zu Constanze, und Storm berichtet das seinen Eltern. Poetenkind – Sorgenkind?
Gedankenlyrik wie Höltys »Merkreime«, von Mozarts Musik verstärkt und dem Zuhörer durch die ewige Wiederholung eingehämmert, ist nicht Storms bevorzugte Lyrikgattung. Dass er sich aber von Glockenspiel und Hölty hat beeinflussen lassen, liegt nahe, auch die ersten Erfahrungen mit seinen Söhnen, die Träume, die er für sie hegt und pflegt, die Luftschlösser, die er für sie baut, indem er ihre Hilfe beansprucht – so errichtete er die Wolkenkuckucksheime mit seiner Liebesphantasterei während der Verlobungszeit – und die Ängste, die ihnen aufgeladen werden, haben gewirkt: Ein klares Wort ist zu sprechen, und das Wort muss ein Gedicht sein.
Im Vorwort zum »Hausbuch« erläutert Storm seinen Standpunkt zur Lyrik überhaupt und zur Lyrik seiner Zeit und begründet seine Auswahl; Platz für 111 Dichter aus einem Zeitraum von etwa
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