Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
nicht blos seine schwächeren, sondern vielfach auch seine glänzendsten Nummern an einem störenden Etwas kranken. Ja, »kranken«, das ist recht eigentlich das Wort, schreibt er seiner Leserin aus Husum.
Fontane hat seine Vorstellung von vollendeter Poesie schon 1853 in der Preußischen Zeitung im Zusammenhang mit »Immensee« beschrieben, als er zum ersten Mal schriftlich das Wort »kränklich« fallen lässt. Er zitiert wörtlich die berühmte Schwimmszene: Reinhard verheddert sich mit den Beinen im Unterwasserseerosenreich. Diese Szene wird gern im Sinne des Poetischen Realismus gedeutet als Doppelbild: Die fleckenlose Seelenwelt waltet mit Reinhards Kopf oberhalb der Gürtellinie und über Wasser, die verruchte, verfluchte Welt unterhalb der Gürtellinie haust unter Wasser. Dichter Storm meidet in seiner Prosa jedes verräterische Wort und lässt den Leser mit seinen Gedanken strampeln wie Reinhard mit seinen Beinen. Daran findet Fontane offenbar Gefallen, und es klingt wie der poetologische Kerngedanke für das noch zu schaffende Fontane-Romanwerk: Wenn die verschleierte Schönheit die schönste ist, so haben wir sie hier .
Es ist nicht nur Widersprüchliches in Fontanes Urteil über Storms erotische Lyrik und Prosa. Er revidiert nach drei Jahrzehnten auch sein Urteil über ein Gedicht, das nicht vom Stormschen Bibber lebt. Von den zehn Strophen des Gedichts »Abschied«, das Storm 1853 vor seiner Exilzeit in Preußen schrieb, hebt Fontane in einem Brief besonders die letzten Verse lobend hervor. Sie wenden sich an Storms Jüngstgeborenen, den drei Monate alten Knaben Karl, mit der Losung Kein Mann gedeihet ohne Vaterland! Der Dichter fährt fort mit der zehnten und letzten Strophe:
Kannst du den Sinn, den diese Worte führen,
Mit deiner Kinderseele nicht verstehn,
So soll es wie ein Schauer dich berühren,
Und wie ein Pulsschlag in dein Leben gehn!
Dazu schrieb Fontane im Mai 1868 an Storm: Es giebt für mich keinen lyrischen Dichter, der meine Empfindung so oft träfe wie Sie . Knapp dreißig Jahre später, im Brief an Hedwig Büchting, lobt er das Gedicht nach wie vor, allerdings mit einer wesentlichen Einschränkung: Das Abschiedsgedicht von der Heimath, wo er sich zuletzt an sein Jüngstes in der Wiege wendet, ist ein Meisterstück und an seinen schönsten Stellen geradezu ergreifend, aber auch hier noch finde ich ein Etwas, das mich verdrießt. Ich bin auch patriotisch und habe auch Söhne, aber es ist ganz undenkbar, daß ich an einen meiner Jungens jemals solche Worte hätte richten können.
Widerspruch oder neue Sicht? Fontane empfindet eine Störung, die er vorher nicht so empfunden hat. Es geht in den letzten vier Versen um die Frage: Wie halte ich es in dieser oder jener Sache mit meinem Kind? Wie erziehe und wie überzeuge ich? Dass Dichter Storm sein Kind mit Zauber oder Hexerei auf den rechten Lebensweg bringen will, kann Fontane nicht akzeptieren, ja er reagiert darauf mit Abscheu. Spürt er darin etwas von der manipulativen Pädagogik, die Storm seinen drei Söhnen und vier Töchtern angedeihen ließ?
In seiner Erziehungsarbeit steht Storm wie an seine Kinder gefesselt. Auch wenn ihn eine Krankheit niederwirft, liegt ihm die Fessel an und lässt nicht locker: Ach, mein Lisbeth, es ist so schwer, vom Bett aus alles zu dirigieren , schreibt er an die Älteste noch, als sie einunddreißig Jahre alt ist.
Für meine Söhne
Potsdam, den 7. Mai 1854, Sonntagabend um neun Uhr in der Wohnung des Hauses Brandenburger Straße 70, obere Etage. Storm schreibt einen Brief an seine Eltern in Husum: Es ist recht still hier in meinem Hinterstübchen; die kleinen Bohrwürmer picken in den Fensterbrettern, und in der Ferne spielen die Glocken auf der Garnisonskirche ihr ewiges: »Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich!« Ein wunderlicher Einfall vom Alten Fritz!
Es muss eine halbe Stunde vor oder eine halbe Stunde nach neun Uhr gewesen sein, denn die Mozart-Melodie aus der »Zauberflöte« (1791) spielt das Potsdamer Glockenspiel jeweils zur halben Stunde, während zur vollen Stunde der Choral »Lobe den Herren« geschlagen wird. Diese Melodien erklingen heute noch, wenn auch nicht mehr vom Turm der Garnisonskirche, der seit dem zweiten Weltkrieg eine Ruine ist. Friedrich II., dem Großen, König von Preußen (1740–1786), wie Storm meint, ist dieser Einfall nicht gekommen, sondern Friedrich Wilhelm III. (1797–1840), dem Sohn seines Neffen und Nachfolgers. Seit dessen Regierungsantritt
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