Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Einfühlungsvermögen, dem wir die schönsten Gedichte und Novellen verdanken, versagt in der lebendigen Praxis. Ein Filter, der Vätern und Müttern normalerweise eigen ist und ihnen gestattet, Angst und Schrecken von ihren Kindern fernzuhalten, befindet sich nicht in seiner pädagogischen Ausstattung. Angst und Schrecken werden den Storm-Kindern, besonders Hans, dem Ältesten, treue Begleiter sein.
Gott helfe zur ewigen Seeligkeit durch Jesus Christus. Amen!
Storm ist evangelischer Konfession und nimmt die kirchlichen Akte zu Taufe, Konfirmation, Eheschließung und Beerdigung als selbstverständlich und notwendig, wenn sie ihn nicht persönlich betreffen. Sohn Hans wird später dreimal in der Woche zum Religionsunterricht geschickt. Man feiert die Konfirmation der Kinder.
Storms Gegnerschaft zur Kirche aber ist unübersehbar. Gründet sie sich auf sein Heidentum in seinem friesischen Thule , wie Thomas Mann meinte? Ihre genauere Gründung hat sie in der Ablehnung der kirchlichen Glau-
bensbotschaft: Jesus Christus, Gottes Sohn, nehme das Kreuz auf sich für
die Sünden der Welt, leide und sterbe dafür, erstehe vom Tod auf, fahre auf gen Himmel, sitze dort zur Rechten Gottes, von woher er kommen werde, um Lebende und Tote zu richten. Der Glaube an den Heiligen Geist, an die Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der
Toten und das ewige Leben, Amen. Dieser Glaube fehlt Storm, ja er lehnt ihn heftig und kräftig ab, bringt ihn in seinem Gedicht »Crucifixus« auf den Punkt:
Am Kreuz hing sein gequält Gebeine,
Mit Blut besudelt und geschmäht;
Dann hat die stets jungfräulich reine
Natur das Schreckensbild verweht.
Doch die sich seine Jünger nannten,
Die formten es in Erz und Stein,
Und stellten’s in des Tempels Düster
Und in die lichte Flur hinein.
So, jedem reinen Aug’ ein Schauder,
Ragt es herein in unsere Zeit;
Verewigend den alten Frevel,
Ein Bild der Unversöhnlichkeit.
Die Verse zielen mit ihren Giftpfeilen auf die Jünger, also auf die Kirche. Der Mann hat nie christlich geglaubt; in dem Gedicht »Crucifixus« hat er dem Kreuzeszeichen eine Antipathie bewiesen, die an Mephistos Worte erinnert: Ich weiß es wohl, es ist ein Vorurteil / Allein genug, mir ist’s einmal zuwider … , schreibt Thomas Mann in seinem Storm-Essay. Storm kennt Goethes Faust sehr gut; Mephisto hat ihm mit seiner Antwort auf Faustens Frage Was gibt’s Mephisto, hast du Eil? Was schlägst vorm Kreuz die Augen nieder? im »Urfaust« aus der Seele gesprochen.
Storm hatte bei der Vereidigung auf die preußische Verfassung zu Gott dem Allmächtigen und Allwissenden das Ende der Eidesformel in actu corporali geschworen und »selbst gelesen, genehmigt, unterschrieben« mit Hans Theodor Woldsen Storm. Wie mag ihm, dem Kirche wie Adel das Gift in den Adern der Nation bedeuten, zu Mute gewesen sein, als er diesen Eid schwört? Das Wort »Gott« oder »Herr« geht ihm sonst leicht über die Lippen; in seinen Briefen taucht es immer wieder auf in Floskeln wie »So Gott will« oder »Das weiß nur Gott«; auch in seinen Gedichten: Du hast sie, Herr, in meine Hand gegeben .
Nahm er alles in Kauf, sprang er über seinen Schatten, war das für ihn reine Formsache? Die Eidesformel spricht er mit voller, fester Stimme . Was ihn runterzieht: Dienen, was ich nie gekonnt habe , wozu er nun aber als Gerichts-Assessor verpflichtet ist. Die Heimat erscheint ihm in der Fremde als Hort der Freiheit, diese Freiheit ist ihm nun genommen. Dienen und Freiheit ist für den preußischen Beamten kein Widerspruch; Storm kann da nicht folgen, insofern ist ihm die Eidesleistung ein verhängnißvoller Akt .
Ermunterung und Kurzweil bereitet gleich danach ein vom Rütli-Freund Merckel alias Immermann vorbereitetes kleines anmuthiges Diner. Eine unterhaltsame Runde mit den Freunden des Dichtens und Denkens, abends geht Storm mit Eggers alias Anakreon noch zu Kugler alias Lessing zum späten Tee. Freundlichkeit und Herzlichkeit schlagen Storm nicht nur von den Freunden der Poesie entgegen, sondern auch von den Kollegen des Kreisgerichts in Potsdam. Es ist die erste wichtige juristische Weiterbildungsstätte nach dem Studium und den Husumer Jahren als Rechtsanwalt. Hier, am Kreisgericht, soll der Gerichtsassessor Storm das Justizwesen in Preußen kennen lernen.
Direktor Dr. Carl Gustav von Goßler, sieben Jahre älter, gläubiger Christ, ist Storm wohlgesinnt. Er, den noch eine beachtliche Juristen-Laufbahn erwartet, geht mit seinem
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