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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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100 Jahren. Er gibt Friedrich Rückert mit 25 Gedichten den größten Raum; Goethe und Schiller sind in dieser Ausgabe gar nicht vertreten, um dadurch Raum für weniger Bekanntes zu finden , schreibt der Herausgeber in seinem Vorwort zur dritten Auflage, auch die weichlichen Gesänge des Novalis finden bei ihm kein Gehör. Seinen »Prüfstein« beschreibt er so: Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht durch die Vermittelung des Denkens berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergiebt, wie aus der Blüthe die Frucht .
    Storm findet seine Glanzstücke in den aus unmittelbarem Erleben hervorgegangenen Gedichten, er plädiert für das »Erlebnisgedicht«, das ihm auch für das eigene Schaffen Vorbild ist. Gedankenlyrik, rhetorische Reime, politische Verse sind seine Sache nicht. Da lauert die von ihm immer wieder beklagte »Phrase«, und die ist für ihn so etwas wie der tödliche Virus im Vers.
    Höltys »Landmann« nimmt er nicht auf, weil er dieses Gedicht in das Kröpfchen »Gedankenlyrik« und nicht ins Töpfchen »Erlebnisgedicht« sortiert. Auch die von ihm selber verfassten, sechs Strophen aus vierundzwanzig Versen »Für meine Söhne«, nimmt er nicht in seine Anthologie auf. Aus der eigenen Sammlung hat er neun »Erlebnisgedichte« gewählt; darunter »Abschied«, das Fontane zuletzt so leidenschaftlich kritisierte. Auch die-
ses Gedicht zeigt nicht nur Erlebnis-Charakter, sondern hätte mit glei-
chem Recht als Gedankenlyrik ausgesondert werden können. Im vierten Vers der 9. Strophe melden sich Mahnen und Merken: Kein Mann gedeihet ohne Vaterland.
    Die Gedankenlyrik ist ein Fass mit Boden; sie enthält moralische Grundsätze, vorbildliche und abschreckende Lebensgeschichten und Anweisungen zum praktischen Handeln. Da hockt die von Storm angefeindete und befehdete »Phrase« stets auf der Lauer, um dem Gedicht den tödlichen Stoß zu geben. Will ein Dichter auf diesem Lyrikgebiet Gültiges und Erhebendes leisten, dann sollte er auf lange Erfahrung und einen kritischen Geist zurückgreifen können. Selbstverständlich kommt entscheidend hinzu: Wie ist das Ganze gemacht?
    Storm schreibt die Verse »Für meine Söhne« wohl im Sommer 1854, nachdem er seinen Eltern vom Glockenspiel der Garnisonskirche berichtet hat. Vor der Niederschrift liegt aber eine längere, von Storms Lebenserfahrung geprägte Geschichte.
    Hehle nimmer mit der Wahrheit!
Bringt sie Leid, nicht bringt sie Reue;
Doch weil Wahrheit eine Perle,
Wirf sie auch nicht vor die Säue.
    Blüte edelsten Gemütes
Ist die Rücksicht; doch zu Zeiten
Sind erfrischend wie Gewitter
Goldne Rücksichtslosigkeiten.
    Wackrer heimatlicher Grobheit
Setze deine Stirn entgegen;
Artigen Leutseligkeiten
Gehe schweigend aus den Wegen.
    Wo zum Weib du nicht die Tochter
Wagen würdest zu begehren,
Halte dich zu wert, um gastlich
In dem Hause zu verkehren.
    Was du immer kannst, zu werden,
Arbeit scheue nicht und Wachen;
Aber hüte deine Seele
Vor dem Karriere-Machen.
    Wenn der Pöbel aller Sorte
Tanzet um die goldnen Kälber,
Halte fest: du hast vom Leben
Doch am Ende nur dich selber.
    Ähnlichkeiten und Gegensätze sind unverkennbar beim Vergleich mit Höltys Landmann-Versen. Da ist die Rede an den Sohn oder an die Söhne. Da ist der Griff in die Schatzkiste der Bibelweisheit. Da ist das vierhebige Versmaß, wenn auch auf verschiedenem Fuße. Höltys Landmann schreitet einen Jambus, Storm kommt auf einem Trochäus daher und beginnt jeden Vers mit einem deutlichen Fingerzeig. Während der Landmann seinen Vers mit einer Andeutung, also mit methodischer Vorsicht eröffnet, startet Storms Vater-Rede gezielt in medias res und redet der Rücksichtslosigkeit das Wort.
    Es sind die miterlebten gesellschaftlichen Verhältnisse in Preußen, die Storm mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und seinem durchgebildeten Rechtsempfinden einfängt. Wortmächtig nimmt er Überheblichkeit und Dummheit der Junker, Preußens Schickeria und Schranzentum, sprachliche Falschmünzerei und politische Scheinfreiheit aufs Korn.
    Er scheut sich nicht, Stellung zu beziehen, wenn Preußen und die Preußen mit zu viel Stolz und Glanz herausgestrichen werden: Geburt, Reichtum, Rang, Talent und Wissen vertragen sich hier in wunderbarer Weise und Graf Arnim mit einem halben Fürstentum hinter sich, verkehrt mit dem Lokomotivenbauer Borsig oder mit Professor Dove

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