Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
völlig ebenso wie mit seines Gleichen , schreibt Fontane, nachdem sich die beiden ein halbes Jahr kennen. Storm antwortet: Fragen Sie Ihren Grafen Arnim doch einmal, ob er dem Prof. Dove oder dem Maschinenbauer Borsig auch seine Tochter zur Ehe geben wolle! – Ich verlange das keineswegs unbedingt von dem Grafen Arnim; aber es ist jedenfalls ein Probirstein für das Nivellement. Ich habe mir es oft selber vorgesprochen, und lassen Sie mich’s hier […] einmal niederschreiben: ein junger Mann sollte zu stolz sein, in einem Hause zu verkehren, wovon er bestimmt weiß, daß man ihm die Tochter nicht zur Frau geben würde .
Hier haben wir schon in Prosa, was ein Jahr später die fingerzeigenden Verse als Regel Nummer vier der vierten Strophe beschreiben. Der Dichter hat alles lange mit sich herumgetragen, manches ist schon vorformuliert, manches noch unbekannt, er trägt eine hochwichtige Last wie eine noch zu löschende Ladung, schreibt sie dann ins Stammbuch für seine drei Söhne, Regeln zu Schlüsselwörtern des Lebens: Wahrheit und Rücksicht, Nachbarschaft und Stolz, Arbeit und Karriere. Zeitlos gültige Übungen nicht nur für die eigenen Kinder, ein Album für die Jugend.
Gut gedacht ist noch nicht gut gedichtet, aber gut gedichtet ist immer gut gedacht. »Für meine Söhne« ist gut gedacht, aber nicht alles darin ist gut gedichtet. Die ersten drei Strophen fließen munter und frei dahin, doch in der vierten hakt es. Die Storm so wichtigen Verse über Stolz und Selbstbewusstsein kommen verkästelt und verbastelt heraus, hier stockt die Sprache und trotzt dem Dichter. So auch die fünfte Strophe, die im letzten Vers mit »Karriere-Machen« endet und damit einen Schwachpunkt bildet.
Ob Storm auch die ungünstige Gold-Doppelung in Verbindung mit »Rücksichtslosigkeiten« und »Kälber« aufgefallen ist? Das nichtig glitzernde Gold der Kälber steht gegen das wertvolle Gold der Rücksichtslosigkeiten und lässt seinen Kurs tief fallen.
Wie steht es nun um das Gold von Storms eigenen Rücksichtslosigkeiten? Wie fein er seine Goldfäden gegenüber Constanze spann, ist aus den Verlobungsbriefen bekannt, auch sein Verhalten gegenüber Freunden und Kollegen hat viel von jener beschönigend bedichteten goldenen Rücksichtslosigkeit, die man nicht verwechseln darf mit Mut und Tapferkeit; auch die findet man zweifellos als Stormschen Charakterzug. Rücksichtslosigkeit ist seine Schwäche; sie erwächst ihm aus der mangelhaften Gabe, Abstand zu halten und Takt zu üben – anders herum: aus dem Bedürfnis, menschliche Nähe zu haben, um nicht allein zu sein.
In dem so behandelten Miteinander geht manches zu Bruch, übrig bleiben Stirnrunzeln und Abwenden, Verstimmung und Distanzierung. Eine lebenslange Freundschaft ist Storm nicht vergönnt, auch die lange Verbindung zu Paul Heyse hat nicht das, was Freundschaft eigentlich kennzeichnet: menschliche Nähe.
Mit welcher Last Storm die väterliche Nähe zu seinem fünfjährigen Hans und seinem dreijährigen Ernst beschwert, erfährt man aus einem Brief, den er seinem Freund aus Husumer Zeiten, Brinkmann, schreibt: Gestern Abend saßen wir in der Dämmerung in meinem Zimmer, Hans zu meinen Füßen, Ernst auf meinem Schooß. Wir sprachen vom »lieben Gott«, und Ernst begeisterte sich an der Vorstellung, daß der liebe Gott nachts sein Auge über ihm halte, und ihn vor den »Wülfen« beschütze. Dann fragte er: »Hält der liebe Gott auch sein Auge über die Waisenkinder?« »Oh, über die zu allermeist!« rief Hans. Dann folgte ein Gespräch über Waisenkinder, und ich fragte sie am Ende, was sie denn wohl beginnen würden, wenn nun Papa und Mama stürben: »Ach«, sagte Hans »denn halte ich mir eine alte Magd und schlag mich mit der durch’s Leben, so gut ich kann.« »Ja«, sagte ich, aber wenn wir nun jetzt, heute Nacht stürben, was dann?« Da rückte ihm denn doch die Sache etwas auf den Leib; er machte ein etwas ängstliches Gesicht und sagte: »Nein ihr sterbt nicht heute Nacht Papa!« Ernst aber, der still auf meinem Schooß gelegen, sagte auf einmal mit einer Stimme, die das Weinen kaum zurückhielt: »Er hält sein Auge über uns!« Ihr glaubt nicht, wie rührend das war .
Nicht nur, dass Vater Storm hier ohne böse Absicht einen tückischen Terror ausübt, er berichtet auch darüber noch mit Stolz und innerer Befriedigung. Hat er überhaupt begriffen, dass seine Kinder Angst und Schrecken bei diesen Gedankenspielen erleiden müssen? Sein
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