Du lebst nur zweimal
bald an die japanische Lebensweise gewöhnt haben«, gab Tiger freundlich zur Antwort.
»Es ist eigentlich mehr die Arbeit des japanischen Todes, die mich etwas verwirrt«, meinte Bond liebenswürdig und hielt der knienden Kellnerin sein Glas hin. Er mußte sich mit weiterem saké genügend Kraft antrinken, um den Seetang zu versuchen.
10
Tiger und Bond standen im Schatten einer Allee riesiger Bäume und beobachteten die mit Kameras bewaffneten Pilger, die den berühmten Äußeren Schrein von Ise, den größten Tempel des Schintoismus, besuchten. »Also los«, befahl Tiger. »Sie haben die Leute und ihr Benehmen studiert. Sie beten zur Sonnengöttin. Gehen Sie hin und sprechen Sie ein Gebet, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.«
Bond schritt über den gepflegten Pfad und durch das große Holztor und gesellte sich zur Menge vor dem Ise-Schrein, den zwei Priester in ihren prachtvollen roten Kimonos und schwarzen Helmen bewachten. Bond verneigte sich vor dem Schrein, warf eine Münze auf das Drahtgeflecht, das dazu bestimmt war, die Opfergaben aufzunehmen, klatschte laut in die Hände, neigte den Kopf wie zum Gebet, klatschte noch einmal in die Hände, verbeugte sich und ging zurück.
»Sehr gut«, lobte Tiger. »Einer der Priester hat Sie kaum angesehen. Die Leute haben gar nichts bemerkt. Sie hätten vielleicht noch etwas lauter in die Hände klatschen sollen. Das soll die Aufmerksamkeit der Göttin und Ihrer Ahnen auf Ihre Anwesenheit am Schrein lenken. Dann beachten sie Ihre Gebete mehr. Was haben Sie eigentlich gebetet?«
»Ich fürchte - gar nichts, Tiger. Ich habe mich nur darauf konzentriert, die richtige Reihenfolge der Bewegungen nicht zu vergessen.«
»Die Göttin hat das sicher bemerkt, Bondo-san, und wird Ihnen helfen, sich in Zukunft noch mehr zu konzentrieren. Gehen wir zum Auto zurück.«
Auf dem Parkplatz hinter den gewaltigen torii, die den Eingang bewachten, spien Reiseomnibusse am laufenden Band Schüler aus, während die Ordnerinnen »Awri, awri, awri!« riefen und die Fahrer anderer Omnibusse mit Trillerpfeifen zu den Parkplätzen dirigierten. Die kichernden Mädchen trugen schmucklose dunkelbraune Kleider und schwarze Baumwollstrümpfe. Die Jungen hatten die kleidsame hochgeschlossene schwarze Uniform der japanischen Schüler an. Tiger drängte sich mitten durch die Menge. Als sie ihren Wagen erreichten, sah Tiger zufrieden aus. »Ist Ihnen etwas aufgefallen, Bondo-san?«
»Eine Menge hübsche Mädchen. Leider zu jung für mich.«
»Falsch. Noch gestern hätten viele dieser Mädchen Sie angestarrt und hinter vorgehaltenen Händen >gaijin< gesagt. Heute hat man Sie nicht mehr als Fremden erkannt. Das liegt einmal an Ihrem Aussehen, zum anderen hat sich aber auch Ihr Verhalten gebessert. Sie strahlen mehr Selbstsicherheit aus.« Tiger sah ihn mit seinem gewinnendsten Lächeln an. »Die Tanaka-Methode. Sie ist gar nicht so unsinnig, wie Sie glauben.«
»Und welches ehrenvolle Erlebnis erwartet mich heute nachmittag?« fragte Bond etwas sauer.
»Ich fahre mit Ihnen zu einer der geheimen Ausbildungsstätten meines Dienstes«, sagte Tiger. »Es ist nicht weit von hier in den Bergen, eine alte Burg. Man kennt sie unter dem Namen >Zentrale Bergsteigerschule<. So gibt es in der Nachbarschaft kein Gerede, was nur zu begrüßen ist, weil meine Agenten hier in einer der in Japan am meisten gefürchteten Künste ausgebildet werden - in ninjutsu, was wörtlich >Kunst der Heimlichkeit oder Unsichtbarkeit< bedeutet. Alle Männer, die Sie sehen werden, beherrschen mindestens zehn oder achtzehn Kriegskünste des bushido - wörtlich etwa >Möglichkeiten des Kriegers«
- und lernen jetzt ninja oder >unsichtbare Eindringlinge« zu werden. Seit Jahrhunderten gehört das schon zur Grundausbildung von Spionen, Attentätern und Saboteuren. Sie werden diese Männer über die Wasseroberfläche, die Wände hinauf und an der Decke gehen sehen, und man wird Ihnen die Ausrüstung zeigen, die es ihnen ermöglicht, einen ganzen Tag lang unter Wasser versteckt zu bleiben. Daneben werden Sie noch andere Tricks erleben. Denn natürlich waren die ninja niemals die Übermenschen, zu denen sie der weitverbreitete Aberglaube gemacht hat. Trotzdem werden die Geheimnisse des ninjutsu auch heute noch gewissenhaft gehütet. Sie sind Eigentum der beiden Hauptschulen Iga und Togakure, von denen ich meine Instrukteure beziehe. Ich glaube, es wird Sie interessieren. Und vielleicht können Sie dabei selbst noch etwas lernen. Ich habe es
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