Du lebst, solange ich es will
Kreuz gesehen, wären nicht beinahe ertrunken. Hätten am Ufer nicht aufeinandergelegen.
Ich schmecke die Chips in meinem Mund überhaupt nicht, stopfe sie nur in mich rein, während ich im Internet surfe. Es ist beängstigend, wie viele Seiten es über Vermisste gibt. Auf den meisten steht zu viel geschrieben, gibt es zu viele fette Schriftzüge und zu viele geschmacklose Clip-Art-Bildchen von Rosen, Engeln und Kerzen. Manche der Internetseiten sind nicht mehr als traurige Überbleibsel, die einst für Personen ins Leben gerufen wurden, die schon lange nicht mehr vermisst werden. Ganz oben auf einer Webpage steht ein Zeitungsartikel mit der Überschrift: »Schüler einer Privatschule gesteht Mord mit Baseballschläger an Mädchen.«
Ich klicke mich durch, bis ich bei missingkids.com lande. Es ist eine Art Suchmaschine für vermisste Kinder überall in den Vereinigten Staaten. Man kann nach Name, Geschlecht, Jahr und Bundesstaat suchen.
Ich tippe einfach Oregon ein und drücke auf Enter. In den letzten zwanzig Jahren sind an die fünfzig Kinder in Oregon verschwunden. Ich klicke ein Kind nach dem anderen in der Liste an. Bei den jüngsten Einträgen gibt es nur ein Foto, auf dem ein pausbäckiges Kleinkind oder ein mürrisch dreinblickender Teenager zu sehen sind. Bei den Kindern, die vor langer Zeit verschwunden sind, gibt es zwei Fotos. Ein altes Bild von damals als sie verschwanden und ein computersimuliertes, wie sie jetzt aussehen müssten, wenn sie dreißig, vierzig oder noch älter wären.
Ich lecke orangefarbene Chipskrümel von meinen Fingern und sehe mir den Eintrag eines Jungen an, der zwölf war, als er 1987 verschwand. Bei ihm steht ein sogenanntes »Alterungsbild«. Ich habe das Gefühl, dass dieser untersetzte Mann in dem blauen Poloshirt mit einem Rasurschnitt am Adamsapfel niemals außerhalb von Photoshop existiert hat. Dass er bereits nur noch aus Knochen bestand, bevor er ein Erwachsener werden konnte.
Ich klicke mich immer weiter durch, bis alles ineinander verschwimmt. Sie waren auf dem Weg zum Einkaufszentrum, zum Jahrmarkt, zur Kirche - doch sie kamen nie zurück. Manchmal sind sie einfach nur ins Bett gegangen. Als sie das letzte Mal gesehen wurden, waren sie mit Freunden zusammen, mit drei Jungen, am Strand mit einem älteren Mann, stiegen in ein Auto, gingen zum Angeln, nahmen einen Bus. Sie haben Zahnlücken, Sommersprossen, ein Muttermal auf der Nase, brauchen Medikamente. Sie grinsen von Schuljahrbuch- oder Familienfotos.
Unter den Bildern stehen in Stichwörtern die traurigen Fakten. »Das Foto zeigt Tyler, wie er mit 24 Jahren aussehen könnte. Er wurde zuletzt in seinem Bett gesehen. Am rechten Fuß hat er eine Warze.« Tyler wird seit zweiundzwanzig Jahren vermisst. Diese Warze wird wohl schon lange verschwunden sein, auf welche Weise auch immer.
Erst als eine heiße Träne auf meinem Oberschenkel landet, merke ich, dass ich weine.
POLIZEI PORTLAND LABORBERICHT
Die DNA-Proben von der Zahnbürste von Kayla Cutler (Beweisstück A) als auch die vom Blut auf einem Stein, der am Willamette River gefunden wurde (Beweisstück B), wurden durch Polymerase-Kettenreaktion (PCR) vervielfältigt und an den Orten nachgewiesen, die in beigefügter Tabelle aufgelistet sind.
Von Beweisstück B konnte eine einzelne menschliche DNA-Spur identifiziert werden, die der DNA-Struktur von Kayla Cutler entspricht, welche von Beweisstück A bekannt ist. Diese DNA-Struktur kommt mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:273 Milliarden vor.
Die Beweisstücke werden im Labortresor aufbewahrt und können bei nächster passender Gelegenheit abgeholt werden.
AUSZUG DER INTERNETSEITE VON TREVOR G. SMITH, STRAFVERTEIDIGER
F: Wieso sollte man mit der Polizei oder der Strafverfolgungsbehörde nicht über ein Verbrechen reden?
A: Egal, ob man sich des Verbrechens für schuldig hält oder nicht, sollte man immer zuerst mit einem Anwalt reden, bevor man mit der Polizei spricht. Die Polizei macht den Leuten gerne weiß, man könnte das Strafmaß mindern, indem man ein Geständnis ablegt. Meistens ist jedoch das Gegenteil der Fall. Nachdem man mit seinem Anwalt gesprochen hat und zu einer Übereinkunft gekommen ist, mag es sinnvoll sein, mit der Polizei zu reden.
F: Darf die Polizei jemanden belügen?
A: Ja! Viele Leute sind erstaunt, dass die Polizei lügen darf. Aber sehen Sie es doch mal so: Polizisten lügen täglich, wenn sie sich als Käufer von Drogen ausgeben und dabei in Wirklichkeit verdeckte
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