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Du lebst, solange ich es will

Du lebst, solange ich es will

Titel: Du lebst, solange ich es will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Henry
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hätte ihn überfahren können. Ich stelle mir vor, wie sie aufs Gaspedal tritt, und höre den befriedigenden Knall, als ihn die Stoßstange trifft.
    Doch stattdessen ist Kayla aus dem Wagen ausgestiegen. Und dann muss sie gerannt sein. Sie ist nicht wieder eingestiegen, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht hat er ihr den Weg versperrt. Oder sie hat es versucht, hat versucht, im Auto zu bleiben, und er hat sie herausgezerrt, während sie schrie und um sich trat? Aber dann erinnere ich mich daran, dass man ihre Handtasche unberührt auf dem Beifahrersitz gefunden hat. Was auch passiert ist, es ist nicht im Auto passiert.
    Kayla hat die Handbremse angezogen. Sie ist ausgestiegen. War sie da noch allein? Wenn ja, was wollte sie mit den Pizzaschachteln? Hier steht weit und breit kein Haus. Sie würde die Pizzas nur mitnehmen, wenn derjenige, der sie bestellt hatte, in der Nähe war.
    Oder war der Täter, nachdem er mit Kayla fertig war, zum Auto zurückgekehrt und hat die Pizzaschachteln erst dann genommen? Vielleicht geriet er durch ein herannahendes Auto in Panik, hat sie einfach fallen gelassen und ist davongelaufen.
    Ich stelle mir noch einmal vor, wie Kayla vom Auto wegläuft. Das Bild taucht immer wieder in meinem Kopf auf.
    Und in dem Moment renne ich selber los. Kurz darauf höre ich Drews Schritte hinter mir. Er ruft: »Gaby, hör auf damit! Gaby!«
    Ich renne einen Abhang hinunter auf den Fluss zu. Er liegt versteckt hinter einer Reihe von Büschen und Bäumen.
    Hat sie geschrien, hat ihre Stimme durch die endlose Nacht gehallt? Oder hat sie ihren Atem lieber gespart, um schneller rennen zu können? Hat Kayla versucht, leise aufzutreten, damit ihr in der Dunkelheit nicht folgen konnte? Der Fluss ist ganz nah und das Rauschen hat ihre Schritte vielleicht übertönt. Ich stelle mir vor, wie sie rennt, die Arme in die Dunkelheit ausgestreckt und fieberhaft überlegt: Wohin soll sie rennen? Wo ist sie in Sicherheit? Kann sie sich irgendwo verstecken?
    Währenddessen läuft sie, so schnell sie kann. Rennt vor dem Mann davon, der sie verfolgt.
    Ich schließe die Augen, stelle mir die Dunkelheit in der Nacht vor, doch eine Sekunde später reiße ich sie wieder auf.
    Er muss sie eingeholt haben. Wieso lag sonst der blutige Stein unten am Fluss?
    Drew berührt mich mit den Fingerspitzen an der Schulter und von einer Sekunde auf die andere schießt mir noch mehr Adrenalin ins Blut. Ich keuche. Drew bleibt mir auf den Fersen.
    Wie hat der Täter Kayla gefasst? Hat er sie an den Schultern gepackt? Trug sie die Haare an dem Abend zum Zopf? Hat er ihn geschnappt und ihren Kopf nach hinten gerissen? Ich sehe, wie sie aufschreit, auf die Knie fällt und ihr spitze Steine in die Handflächen schneiden. Vielleicht stammt das Blut daher.
    Und da ist er, der Fluss, dunkelgrau und ungefähr fünfzehn Meter breit. Ein drei Meter langer, von Unkraut und halbhohen Büschen zugewucherter Abhang führt zum Ufer, das von schwarzen Steinen gesäumt ist. Niemand würde freiwillig hier langspazieren. Der Uferschlamm sieht ölig verdreckt aus. Ungefähr dreißig Meter weiter flussabwärts ist eine Stelle ganz aufgewühlt. Es gibt zwar kein polizeiliches Absperrband, aber ich weiß auch so, dass das die Stelle sein muss, an der sie den blutigen Stein gefunden haben. Erst jetzt merke ich, dass ich nicht mehr renne, mich gar nicht mehr bewege.
    Drew holt mich leise fluchend ein. Wir gehen zusammen zu der Stelle, die durch das hervorsticht, was nicht mehr da ist. Genau wie Kayla selbst. Ihre Abwesenheit hallt wie ein Echo. Bei der Arbeit denke ich immer, ich höre gleich ihre Stimme oder sehe sie hinter dem Tresen lachen.
    Ich blicke nach unten auf den aufgewühlten Boden. Hat Kayla an dieser Stelle zum letzten Mal Luft geholt, zum letzten Mal ein Geräusch von sich gegeben?
    Aber ich kann es noch immer nicht glauben. Ich kann es einfach nicht.
    Was, wenn es zwei Täter waren? Das wäre noch schlimmer. Zwei Männer, nicht nur einer. Welche Chance hätte Kayla dann gegen sie gehabt? Gar keine. Der eine hätte sie festgehalten, während der andere mit ihr tat, wonach ihm auch immer war - sie schlug, ihr die Klamotten vom Leib riss. Oder ihr einen Stein an den Kopf warf.
    Wieso der Stein? Hat sie sich beim Sturz die Handflächen aufgerissen? Oder war es viel schlimmer? Waren die üblen Sachen da schon passiert oder fing es damit erst an? Oder - mein Herzschlag geht schneller - vielleicht war Kayla diejenige, die den Stein genommen hat.

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