Du lebst, solange ich es will
am Leben ist.« Ich sollte das nicht tun. Sollte Gaby nicht in etwas bestärken, das gar nicht sein kann.
»Vielleicht beobachtet sie uns aus dem Jenseits und das ist es, was ich spüre.« Gaby verzieht den Mund. »Ihren Geist.«
»Vielleicht. Aber du hast ziemlich überzeugt gewirkt.«
»Allerdings ist es schon sehr wahrscheinlich, dass Kayla tot ist.« Gaby spricht jetzt ganz leise. »Wie fühlt es sich wohl an, zu ertrinken? Oder erdrosselt zu werden? Meinst du, man leidet ganz bis zum Ende? Oder wird man vorher bewusstlos und spürt nichts mehr? Versinkt dann alles in Dunkelheit?« Ihre Stimme zittert. »Ist es, als würde man schlafen? Oder leidet man unendliche Qualen?«
Jetzt zittern auch ihre Schultern. Ich stehe auf, knie mich vor sie hin und umarme sie. Es ist anders als die paar Male zuvor, bei denen ich sie nur rein zufällig im Vorbeigehen berührt habe. Damals habe ich Gaby als Mädchen wahrgenommen. Jetzt fühle mich eher wie ihr Bruder. Jemand, der stärker ist als sie. Obwohl ich es nicht bin. Ich meine, sie hat mich aus dem Fluss gerettet.
Aber jetzt, wo sie in meinen Armen zittert, komme ich mir wirklich wie ihr Bruder vor.
Bis sie mich küsst.
Der sechste Tag
GABY
Als ich Drew küsse, habe ich das Gefühl zu ertrinken, bin wie betäubt und habe vollkommen die Kontrolle verloren. Es fühlt sich an, als könnte ich voll und ganz in Drew versinken und nie wieder auftauchen.
Stattdessen werfe ich meinen Kopf zurück, stütze mich auf seinen Schultern ab und stehe auf. Ich gehe zum Fenster. Drew kniet noch immer am Boden. Er dreht sich zu mir um. Ich weiß nicht, was er jetzt denkt. Sein Mund ist weich. Er grinst nicht, frohlockt nicht, scheint noch nicht einmal so verwirrt, wie ich es bin.
»Am besten, du gehst jetzt«, sage ich. Ich will nicht darüber reden, was gerade passiert ist. Ich will nicht darüber nachdenken, was gerade passiert ist. Was auch immer zwischen uns war, hat sich verändert. Vorher habe ich Drew geholfen, wenn er etwas brauchte - mehr Arbeitsstunden, die Schlüssel von meinem Auto, ich habe ihn sogar aus dem Fluss gefischt. Jetzt wird mir klar, wie sehr ich ihn selbst brauche. Dabei brauche ich eigentlich niemanden. Das habe ich vor längerer Zeit gelernt. Ich brauche meine Eltern nicht. Ich brauche keine Geschwister. Und seit Maja mit ihrer Familie letztes Jahr weggezogen ist, weiß ich, dass ich noch nicht einmal eine beste Freundin brauche.
Irgendwie sind Pete und sein Laden das, was für mich noch am ehesten an Freunde und Familie herankommt.
Drew steht auf. Ich drehe mich um und betrachte den strahlend blauen Himmel und die Eichenblätter, die sich dunkelgrün davon abheben. Ich mag diese Farben, den Kontrast. Als Kind lag ich oft vor dem Haus auf dem Rasen und habe in den Himmel gestarrt. Ich lag da und dachte an nichts.
Jetzt denke ich viel zu viel. So viel, dass ich nicht mehr weiß, was stimmt und was nicht. Was Schwachsinn ist und was richtig.
Ich weiß, was meine Eltern sagen würden. Sie würden sagen, Drew ist ein Fehler. Ich gehe nächstes Jahr nach Stanford. Drew geht nirgendwohin.
Ich warte darauf, seine Schritte auf dem Weg zur Tür zu hören, gedämpft durch den weichen Teppich. Stattdessen spüre ich seine Wärme, als er sich hinter mich stellt. Er berührt mich nicht. Das muss er nicht.
»Azur«, sagt er und sieht an mir vorbei.
Ich drehe mich zu ihm um. »Was?«
»So nennt man die Farbe des Himmels.«
»Das weiß ich. Mich überrascht nur, dass du das Wort kennst.«
Drews Gesicht verschließt sich sofort. Er dreht sich auf den Fersen um, hebt seinen Rucksack und sein Skateboard auf und ist in der nächsten Sekunde bei der Tür.
»Warte, so habe ich das nicht gemeint«, sage ich. »Drew!« Ich renne ihm nach, aber er ist schon halb die Treppe runter. Mein Dad sieht auf, als wollte er ihn herausfordern. Als wäre etwas passiert. Ist es, aber nicht das, was er denkt. Ich kann Drew jetzt nicht flehend hinterherrennen. Also gehe ich zurück in mein Zimmer, bevor mein Dad fragen kann, was los ist. Im selben Moment, in dem ich meine Zimmertür schließe, schließt Drew die Haustür hinter sich.
Ich hätte einfach nicht gedacht, dass Drew Bücher liest. Aber Azur ist ein Wort, das man fast nur in Büchern findet. Keiner sagt es. »Lesewörter« nenne ich all die Wörter, die nur in Büchern stehen und die niemand wirklich beim Sprechen benutzt. Niemand sagt »flitzen«. Oder »Kochstelle«.
Ich will mein Zimmer nicht verlassen. Es kommt nicht
Weitere Kostenlose Bücher