Du lebst, solange ich es will
oft vor, dass meine Eltern beide gleichzeitig zu Hause sind. Und noch seltener, dass ich einen Jungen mit nach Hause bringe. Halt, falsch - ich habe noch nie einen Jungen mit nach Hause gebracht. Sie werden darüber reden wollen, mir Fragen stellen. Ich komme wahrscheinlich nicht drum herum, denn sie bestehen für gewöhnlich darauf, dass wir zusammen Abendbrot essen, wenn wir alle drei zu Hause sind. Was ungefähr zweimal im Monat vorkommt.
Aber zumindest bis zum Abendessen will ich ihnen, ihren Fragen und den Blicken, die sie sich zuwerfen, aus dem Weg gehen.
Ich könnte lesen oder Hausaufgaben machen (obwohl wir immer weniger aufhaben, je näher die Prüfungen rücken). Stattdessen schalte ich den Computer an.
Ich sollte mich vom Internet fernhalten. Aber nachdem ich Drew vor den Kopf gestoßen habe, den einzigen Menschen, der mein Freund hätte sein können, weggeschickt habe, tippe ich einen bestimmten Begriff in die Suchmaske.
Es gibt über drei Millionen Einträge dazu. Unter dem Schlagwort »Leiche gefunden« tauchen folgende Stichwörter in den Überschriften auf:
in Koffer
verbrannt in Mülltonne
in Feld auf Bauernhof
auf dem Dach eines Wohnhauses
am Straßenrand
verbrannt, geköpft
in abgeschlepptem Fahrzeug
in einem Waldgebiet
in einem Teich
hinter einem Müllcontainer
in einem ausgebrannten Auto
eingerollt in einem Teppich
in Plastik eingewickelt
auf leer stehendem Hof
im Gebüsch
in einem See
unter Schneemassen vergraben
am Eingang zu einem Golfplatz
Folgender Artikel erscheint, als ich auf »in Koffer« klicke:
TEENAGER-LEICHE AUF MÜLLDEPONIE
IN KOFFER GEFUNDEN
Alles begann mit dem Fund der Leiche der 16-jährigen Marissa Johns in einem nagelneuen Koffer auf der städtischen Mülldeponie von Houston. Am Koffer entdeckten Polizeibeamte einen Strichcode, der sie zu einem bestimmten Kaufhaus in der Region führte. Die Polizei ließ sich Überwachungsvideos von dem Abend zeigen, an dem Marissa verschwand, und entdeckte tatsächlich einen Mann, der genau den Koffer kaufte, in dem Marissas Leiche gefunden wurde. Die Polizei identifizierte den Mann als Alberto Rodriguez, einen Nachbarn von Marissa, und nahm ihn fest.
Der siebte Tag
KAYLA
»Du bist mein Meister«, hatte ich zu ihm gesagt, nachdem er mich zu Boden gestoßen hatte. Das war der Moment, in dem ich mich geteilt habe. Es gibt das eine Mädchen, das tun muss, was er sagt. Dieses Mädchen hat noch nicht einmal einen Namen. Es ist wie ein Hund, der so oft geschlagen wurde, dass er gar nicht erst den Kopf hebt oder sich die Mühe macht, die Zähne zu blecken. Und dann gibt es die richtige Kayla. Die schreit, wütet und flucht. Sie ist in dem anderen Mädchen verborgen, wie bei einer dieser russischen Steckpuppen. Versteckt.
»Gut, Sklavenmädchen«, sagte er und mir wurde abermals schlecht.
Ich schaffte es gerade noch zur Toilette in der Ecke des Raumes. Sie steht einfach frei in der Kammer, für jeden sichtbar. Man kann sich nicht zurückziehen. Es ist kein Dixiklo, es gibt eine Spülung, trotzdem brachte mich der Klogeruch immer wieder zum Würgen. Er schnaufte vor Ekel - und ich, die echte Kayla - machte mir in Gedanken eine Notiz, während ich versuchte meine Haare aus dem Gesicht zu halten. Blut und Erbrochenes. Ihm ekelt vor beidem.
»Ich komme wieder«, sagte er wie der Terminator, allerdings ohne Akzent. Und es war nicht lustig.
Nachdem er weg war, rollte ich mich auf dem Bett zusammen. Ich dachte nicht mehr nach. Atmete einfach nur ein und aus. Ich muss eine Weile geschlafen haben.
Als ich wieder aufwache, steht ein Teller mit Essen auf dem Boden. Beim Anblick des Sandwichs und des Apfels wird mir der Mund so wässrig, dass mir Speichel am Kinn entlangläuft. Seit ich die Packung Müsliriegel verdrückt habe, habe ich nichts mehr gegessen. Ich stopfe das Sandwich so schnell in meinen Mund, dass ich beinahe daran ersticke. Es ist ein einfaches Brot mit Senf und knallgelbem Billigkäse, dennoch seufze ich vor Genuss. Mit ungefähr drei Bissen habe ich das ganze Ding verschlungen und lecke mir danach die Finger. Mein Magen hat sich zu einem kleinen, harten Knoten zusammengezogen, als wüsste er nach der langen Abstinenz nichts mit Essen anzufangen.
Erst dann frage ich mich, ob er etwas in den Senf getan haben könnte. Die Schärfe würde so manches überlagern. Ich überlege kurz, ob ich mich übergeben soll, lasse es dann aber.
Stattdessen beiße ich in den kleinen, rot-gelben Apfel. Er ist knackig und saftig.
Weitere Kostenlose Bücher