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Du lebst, solange ich es will

Du lebst, solange ich es will

Titel: Du lebst, solange ich es will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Henry
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HOSENTASCHE VON KAYLA CUTLERS JEANS (MIT BLUT AUF DIE RÜCKSEITE DES ETIKETTS EINER WASSERFLASCHE GESCHRIEBEN)

Der achte Tag
GABY
    Wieso betrinken sich Leute überhaupt? Es ist so sinnlos.
    Ich bin im Bad und übergebe mich nun zum zehnten Mal, so fühlt es sich zumindest an, als meine Eltern in die Auffahrt einbiegen. Das schwache Badlicht brennt in meinen Augen. Ich spüle den Mund aus und taumle zurück ins Bett.
    »Gaby?« Meine Mom klopft an der Tür und öffnet sie, bevor ich antworten kann. Ich ziehe mir das Kissen über den Kopf. »Wieso bist du noch hier? Du kommst zu spät zur Schule.«
    »Ich gehe heute nicht«, murmle ich. »Ich hab’ Grippe.«
    »Steve, komm mal her«, ruft sie. »Gaby ist krank.« Sie schiebt ihre kühle Hand unter das Kissen und auf meine Stirn.
    »Hast du Fieber?«
    »Nein. Nur Bauchweh.« Ich behalte das Kissen auf dem Kopf. Hoffentlich kommt sie mir nicht so nah, dass sie den Kahlua riechen kann. Oh, verdammt. Steht die Flasche noch unten auf dem Wohnzimmertisch? Jetzt kann ich mich unmöglich runterschleichen und sie verstecken.
    »Vielleicht eine Lebensmittelvergiftung. Hast du in der Pizzeria irgendetwas gegessen, das zu lange ungekühlt draußen gestanden hat?«
    »Nein.« Mein Magen zieht sich bei dem Gedanken an Essen zusammen. Ich habe einen modrigen Geschmack im Mund. Meine Zunge fühlt sich pelzig an.
    Binnen drei Minuten haben meine Eltern bei mir Fieber gemessen, sich über meine Symptome beraten und beschlossen, dass ich es mit der BART-Diät versuchen soll - Bananen, Apfelmus, Reis und trocken Toast - nachdem ich mich vier Stunden lang nicht mehr übergeben habe.
    Von ihrem Gerede bekomme ich Kopfschmerzen und beim Gedanken daran, auch nur irgendetwas zu essen, könnte ich mich gleich wieder übergeben. Ich halte Mund und Augen fest geschlossen, bis sie mich endlich wieder in Ruhe lassen.
    Ich verschlafe fast den ganzen Vormittag und träume immer wieder von Kayla.
    In meinem Traum läuft sie vor mir in der Innenstadt auf einer lebhaften Straße. Obwohl sie ganz in Grau gekleidet ist, würde ich sie überall erkennen mit den glatten schwarzen Haaren und den großen, forschen Schritten. Aber sie dreht sich nicht um, selbst wenn ich ihren Namen rufe. Ich versuche ihr zu folgen, doch egal wie schnell ich mich auch durch die Menschenmassen dränge, sehe ich sie immer gerade noch so um die Ecke biegen.
    Ich träume, dass wir uns irgendwo in der Dunkelheit verstecken und sie versucht mir etwas unheimlich Wichtiges zu sagen, aber ich verstehe nicht, was sie verzweifelt flüstert.
    In einem Traum sitzt sie in einem kahlen weißen Zimmer auf einem Bett. Sie lässt den Kopf hängen und weint. Ich rufe sie, doch sie blickt nicht auf. Ich renne auf sie zu, aber es ist, als wäre eine Glasscheibe zwischen uns. Egal wie weit ich ihr meine Arme entgegenstrecke, ich kann Kayla nicht berühren. Sie weiß noch nicht einmal, dass ich da bin.
    Schließlich zwinge ich mich zum Aufstehen. Ich gehe nach unten, um mir ein Toastbrot zu machen. Meine Eltern haben anscheinend kurz ein Nickerchen gemacht und sind wieder zurück zur Arbeit. Das Haus ist leer. Ich entdecke die Kahlua-Flasche im Schrank und erröte bei der Vorstellung, dass einer von ihnen sie weggestellt hat. Zum Glück stand nur ein Glas dabei. Werden sie darüber mit mir diskutieren wollen?
    Ich verfluche mich, als mir wieder einfällt, wie ich mich an Drew rangemacht habe, wie ich sein Ohr geleckt und ihm gesagt habe, dass ich ihn will.
    Das wollte ich auch. Aber zum Teil hatte ich auch Angst davor. Deswegen habe ich immer weitergetrunken. Und deswegen habe ich es immer weitergetrieben. Denn ich dachte, ich könnte es nur durchziehen, wenn ich meine Angst überwinde. Wenn ich einfach ins kalte Wasser springe.
    Sieht so aus, als wollte Drew nicht springen.
    Zumindest nicht mit mir.
    Die Schule zu schwänzen, ist eine Sache. Aber bei der Arbeit kann ich nicht einfach blaumachen. Zum einen sind sie in der Pizzeria sowieso schon zu wenige Leute, zum anderen braucht Drew mein Auto, um Pizzas ausfahren zu können. Was er wohl jetzt von mir denkt? Hält er mich für ein betrunkenes Flittchen? Denkt er, dass ich sein Schicksal bin? Dass ich einsam und verzweifelt bin?
    Später in der Pizzeria verhält er sich ganz normal. Wie der Drew, der er war, bevor Kayla verschwunden ist. Er arbeitet emsig, er sagt kaum etwas und er sieht mich nicht an. Schämt er sich? Ist es ihm egal? Will er, dass ich mich einfach in Luft auflöse?

Der achte

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